| Liebe Pauline de Bok, meine sehr geehrten Damen und Herren,
 Wann und wo auch immer von Geschichten gesprochen wird,
                      die von tragischen Schicksalen in einer Familie berichten,
                      tauchen die „Buddenbrooks“ auf, wann und wo auch immer
                      ein hektisches Großstadtmilieu geschildert wird, denkt
                      man an „Berlin Alexanderplatz“, wann und wo auch immer
                      vom Leben auf einer einsamen Insel die Rede ist, fällt
                      uns „Robinson Crusoe“ ein, und wann und wo auch immer
                      in Zukunft vom Leben auf dem Lande die Rede sein wird,
                      diese Prognose sei mir gestattet, führt kein Weg an „Blankow“
                      vorbei.
 
 Die europäische Nachbarin Pauline de Bok hat uns mit
                      einem Buch beschenkt, das nun, nachdem es in den
                      Niederlanden durch das einhellige Lob Ces Nootebooms und
                      Geert Maks gleichsam geadelt wurde, mit dem
                      Annalise-Wagner-Preis des Jahres 2010 auch in Deutschland
                      die sichtbare Anerkennung findet, die sich schon vorher in
                      den begeisterten Rezensionen der großen deutschen
                      Feuilletons niederschlug. Der Region hat sie so ein
                      sprachliches Denkmal errichtet, das bleiben, überdauern
                      wird, und das an Erinnerungsliteratur satte
                      Mecklenburg-Vorpommern kann sich reich beschenkt fühlen,
                      auch wenn es jetzt schon von Fritz Reuter bis Uwe Johnson,
                      von Peter Jokostra bis Hans Fallada, von Christa Wolf und
                      Wolfgang Koeppen bis hin zu Christoph Hein, Volker H.
                      Altwasser und Peter Wawerzinek über großartige Autoren
                      verfügt.
 
 Doch bevor wir heute gemeinsam mit der Autorin den Pfad zu
                      den Höhen der Literatur erklimmen, möchte ich mit Ihnen
                      kurz zurückschauen auf die Gefährdungen, die am Rande
                      dieses steilen Weges nach oben lauerten. Denn was ist
                      eigentlich an der Geschichte dran, die Pauline de Bok uns
                      erzählt? Eine gestresste Frau zieht aus der Großstadt
                      aufs nahe Land, um es sich dort gemütlich zu machen und
                      sich zu erholen. Nun hätte sie uns daraus eine jener hübschen,
                      gefälligen Geschichten stricken können, wie sie der
                      Literaturbetrieb jedes Jahr neu auf den 
                      Markt wirft. Zum Beispiel so eine: Ein abgelegenes
                      Gut im Dornröschenschlaf, durch Zufall entdeckt, wird von
                      jungen Städtern erworben und aufgemöbelt, bald glänzen
                      hinter der behutsam renovierten Fassade mit der Freitreppe
                      im Saal die neu lackierten Holzdielen, auf denen die
                      Biedermeiermöbel Gediegenheit und Geschmack ausstrahlen.
                      Auf dem Dach verrät die Solaranlage das ökologische
                      Bewusstsein und ein paar eigene Schafe auf der Wiese
                      zeigen, dass man unter die Hobby-Bauern gegangen ist,
                      allerdings nicht ohne sich noch schnell einen
                      DSL-Anschluss für den Laptop legen zu lassen. Kurz, die
                      moderne Großstadt hätte sich ins Dorf begeben, das als
                      Kulisse idyllisch aussehen, aber nach Möglichkeit nicht
                      weiter stören soll, also bitte keine röhrenden
                      John-Deere-Traktoren mit Multidrill, von denen auch
                      Pauline de Bok schreibt.
 
 Alternativ hätte sie auch ein wenig recherchieren und
                      herausfinden können, wer von den literarischen Größen
                      der letzten Jahrhunderte hier vor Ort einen Gesprächspartner
                      aus dem ostelbischen Junkertum hatte oder auf Durchreise
                      war: Ernst Moritz Arndt oder John Brinckman, Major Schill
                      oder Heinrich Schliemann, Hoffmann von Fallersleben oder
                      Wilhelm von Humboldt, oder sogar Königin Luise aus dem
                      benachbarten Hohenzieritz? Einer von ihnen hätte sich
                      sicher gefunden für ein Taschenbüchlein mit dem Titel
                      „Auf den literarischen Spuren 
                      in Blankow mit …“. Oder sie hätte ein
                      romantisches Gartenmärchen in Buchform schreiben können,
                      in dem sich Zitate von Vita Sackville-West mit Sätzen aus
                      Elizabeths von Arnims Büchern abwechseln, garniert mit
                      wunderbaren Farbfotos von Rosenstauden vor Buchsbaumhecken
                      mit Marmorputten.
 
 Aber Pauline de Bok hat sich dem allen in der Realität
                      und im Buch – beide sollten wir weiterhin strikt trennen
                      - verweigert. Von Anfang an ist ihr Eintauchen in die Welt
                      des ehemaligen Vorwerkes Blankow gekennzeichnet durch
                      einen fast ehrfürchtigen Respekt vor dem Bestehenden, und
                      sei es auch noch so verbraucht, heruntergekommen, ja
                      marode. Sie sieht sich als Eindringling, als Geduldete, später
                      als Gast auf Zeit, nie als Besitzerin, Einwohnerin.
 
 Vielleicht hat sie die fassungslose Klage eines Bauern aus
                      Ribbeck gelesen, dem der Schriftsteller F.C. Delius in
                      seiner Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ eine Stimme
                      gab. Der betrachtet mit Staunen die Westberliner, die dem
                      durch Fontanes Ballade berühmt gewordenen Dorf im Jahre
                      1990 einen neuen Birnbaum schenken und sich dabei auch
                      noch selbst feiern wollen. Der Bauer fragt: „aber wie
                      macht ihr das, kaum geht die Grenze auf, da hupt es, und
                      ihr steht mitten auf dem Hof, latscht durch unsere Gärten
                      wie Besatzer und schafft es in wenigen Tagen, mit den mächtigen
                      Markstücken uns die Ruhe zu nehmen und die Steine zu
                      bewegen, das Gras anders wachsen zu lassen und im Boden
                      unter unseren Füßen zu stochern, die alten Schränke uns
                      abzuschwatzen und Zäune zu bauen und mit Geschenken zu
                      winken …“ Geschenke übrigens, die nur peinlich sind,
                      denn die Birnbaumsorte namens „Gräfin von Paris“, die
                      die West-Berliner den trockenen Mark Brandenburgern überreichen,
                      liebt warme, feuchte Böden und trägt erst im Dezember Früchte.
 In „Blankow“ dagegen fällt Jakob Huffel einen
                      „Williams Christ“-Birnbaum mit großem saftigen Obst
                      „an dem Tag, als er von der Beerdigung seines Bruder zurückkam,
                      der im Westen gelebt hatte. Der Baum musste dran glauben,
                      warum, das wusste nur Jakob Huffel…“.
 
 Sie sehen, lesen und hören hier schon, wie dezent Pauline
                      de Bok sich ihrer neuen Umgebung annähert. Anders als die
                      routiniert einfallenden „rasenden Reporter“, die das
                      schnelle Bild oder die rasante Story suchen, geht sie den
                      Weg des „slow journalism“, was vielleicht am besten
                      mit „behutsamer Berichterstattung“ zu übersetzen ist.
                      Sie kann gut zuhören, wenn sie Zeitzeugen trifft, sitzt
                      nur da, schweigend, wenn ihrem Gegenüber die Tränen
                      kommen. Sie lässt die bislang unerhörten Geschichten auf
                      sich wirken, hofft auf weitere Zufallsfunde, unerwartete
                      Begegnungen. Erst spät führt sie der Weg ins Archiv. So
                      sieht sie sich nach wenigen Tagen auf Blankow auch noch
                      – ich zitiere – „wie ein Eichhörnchen, das Vorräte
                      sammelt: die Gegenstände, die Schriftstücke, die
                      Geschichten.“
 Am Ende des Buches aber wählt sie ein anderes Bild, es
                      ist wieder ein Tiervergleich: „Ich fühle mich plötzlich
                      wie eine Stopfgans – die sich selbst stopft – ich würge
                      von all dem Elend und der Kümmerlichkeit. Auch von meinem
                      eigenen kümmerlichen Leben hier im Kuhstall, tagelang bin
                      ich in die Widrigkeiten anderer Menschen eingetaucht, ohne
                      Auge und Ohr für etwas anderes, abwesend,
                      gedankenverloren.“ Was ist ihr widerfahren, dass sie vom
                      putzigen Rotschwanz zur „genudelten“, also fett gequälten
                      Gans wechselt?
 
 Dazwischen liegt ein schwerer Gang durch knapp zweihundert
                      Jahre deutscher Geschichte, festgemacht an Blankow, einem
                      Ort im Abseits. In ihm lebten auf Zeit die Vertriebenen,
                      die Entwurzelten, die Entrechteten, in ihm rasteten
                      Vergewaltigte, Verkrüppelte, Gedemütigte und Enteignete,
                      hier tauchten auch „die Auschwitz-Hyäne“, die Mörder,
                      Täter, Verräter auf, und in Blankow litten die Versager
                      und Feiglinge, die Verzagten und Verstummten. Keiner von
                      ihnen fand hier eine Heimat auf Dauer: Was ein
                      Menschenleben aushalten musste an Revolution und Diktatur,
                      Krieg und Besatzung. Wie man nach all dem überlebte,
                      wieder aufstand, weitermachte. Ich glaube, nur eine
                      Nicht-Deutsche ist in der Lage, mit dem fremden zweiten
                      Blick der Unbetroffenen, Unbeteiligten all das so zu
                      notieren. Pauline de Bok schreibt im Nachwort, dass sie
                      moralische Fragen nicht interessierten, und an anderer
                      Stelle weist sie die Richterrolle weit von sich, aber
                      gerade  ihr
                      Frei-Sein von Schuld und Sühne-Gedanken macht uns als
                      Leser bereit und fähig, ihr im Buch durch dunkle, bittere
                      Kapitel zu folgen.
 
 Doch das ist nur ein Teil dieser literarischen Landnahme,
                      die der Autorin nicht leicht gefallen ist. Als sie sich
                      nach Blankow aufmacht, jenem Gut, das sie seit den
                      achtziger Jahren durch Berliner Freunde kennt und wo sie
                      sich „unbelauscht und unbeobachtet“ wähnt, steckt sie
                      in einer Krise. Die erfahrene Journalistin hatte sich in
                      den Niederlanden zuvor einen Namen gemacht, ihre
                      Reportagen über holländische Friedhöfe oder das Leben
                      am Meer werden geschätzt, ihr fundiertes Wissen als
                      Historikerin und Theologin ist in den Medien gefragt. Und
                      dennoch, wer „Blankow“ genau liest, spürt zwischen
                      den Zeilen die Verunsicherung der Autorin. Der Tod des
                      Vaters klingt in ihr nach, ferne Echos unverarbeiteter
                      Ereignisse verfolgen sie in ihrem selbst gewählten
                      Eremitendasein. Wenn sie auf der Heuwiese oberhalb
                      Blankows steht, sieht sie in Richtung Süden: „Fernweh
                      flammt in meiner Brust auf. Ich hole tief Luft. Berlin,
                      die Stadt. Das ist ein anderes Dasein.“ In die Stille
                      hinein notiert sie: „Musik höre ich kaum. Das kann ich
                      mir nicht gestatten, es würde nur empfindliche Saiten in
                      mir berühren.“ Viel ist von Heimweh die Rede, und ein
                      einsamer Kranich rührt ihre Seele: „Eine Woge von
                      Sehnsucht durchflutet mich, und plötzlich stimmt mich das
                      Vermissen so missmutig, dass mir übel wird. Wir müssten
                      zwei Leben haben, denke ich manchmal, eines allein und
                      eines gemeinsam.“
 
 Nein, Pauline de Bok zählt nicht zu jenen schwärmerischen
                      Aussteigern, die das Leben auf dem Lande in den Künstlerkolonien
                      von Worpswede oder Ahrenshoop 
                      propagierten. Sie, die ihrem Vater dabei zusah, wie
                      er als Tierarzt ein totes Kalb im Mutterbauch mit einer
                      Drahtschlinge zersägen musste, um die Kuh zu retten, hat
                      ein sehr rationales Verhältnis zur Natur, ohne ihre
                      Empathie zu verbergen. Sie weiß um die unabänderliche
                      Abfolge von Geburt, Leben und Tod, und dennoch wehrt sie
                      sich gegen Alter, Verfall, das dem Ende vorangehende
                      Sterben. Jedem toten Tier bringt sie Respekt entgegen,
                      begräbt die kleinen aufgefundenen Leichname von Dachs,
                      Katze, Fledermaus und Blindschleiche oder legt sie
                      mumifiziert in eine Vitrine. Und der Unwille über das nie
                      zu besiegende Kraut namens Giersch oder Löwenzahn hindert
                      sie nicht daran, die ungebändigte Vitalität dieser
                      kraftstrotzenden Pflanzen zu bewundern.
 
 So nähert sie sich über Monate hinweg der Natur und
                      einer Landschaft, deren unspektakuläre Schönheit sich
                      erst spät erschließt. Es sind Feldwege und Eisnester in
                      den Wiesen, Grenzwälle, Hügel und Seen, deren Flora und
                      Fauna sie im Durchlauf der Jahreszeiten immer wieder in
                      ihren Bann zieht. Ein wenig erinnert sie dabei an den
                      empfindsamen Werther, der seinem Brieffreund Wilhelm zunächst
                      vorschwärmt, wie großartig das einfache Landleben doch
                      sei – „wie wohl ist mir´s, daß mein Herz die simple,
                      harmlose Wonne des Mensche fühlen kann, der ein
                      Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst
                      gezogen…“  Danach
                      aber bekennt er offen, dass für ihn diese Beschränkung
                      auf Dauer nicht in Frage kommt. Goethes Werther seufzt
                      nach einer harmlos-fröhlichen Spazierfahrt durch die
                      Natur, dass das alles zwar ganz schön gewesen sei, „nur
                      muss mir nicht einfallen, daß noch so viele andere Kräfte
                      in mir ruhen,  die
                      alle ungenützt vermodern und die ich sorgfältig
                      verbergen muss.“ Auch Pauline de Bok wird von diesen
                      schlummernden Kräften immer wieder herausgefordert,
                      zwischen Unkrautjäten und Holzhacken, Wäschewaschen und
                      Hausreparaturen drängt sich stets die Frage: Wozu das
                      alles, worauf läuft das hinaus, wo endet es?
 
 Ihr Hund wird dabei zur zentralen Figur. Als der Strom
                      ausfällt und keine Fehlerquelle zu entdecken ist, raunzt
                      sie ihn anfangs an: „Denk mal mit … an Dir habe ich überhaupt
                      nichts, wenn´s drauf ankommt. Du kannst nur fressen.
                      (…) Mensch, tu doch was, schreie ich ihn an. Er macht
                      sich noch kleiner.“ Später erkennt Pauline de Bok im
                      Hund das unbewusst-unschuldige Lebewesen, begreift den
                      Menschen im Gegensatz dazu als die einzige Spezies, die
                      mit einem Bewusstsein von sich und der Umwelt
                      ausgezeichnet, oder besser: gestraft ist. Immer wieder
                      kreisen ihre Gedanken um diesen entscheidenden
                      Unterschied. Das unbekümmerte Dahinleben des Hundes,
                      seine Sorglosigkeit, sein Vegetieren von Tag zu Tag weckt
                      ihre Aufmerksamkeit. Sie fällt sogar auf die Knie, um von
                      unten zu sehen: Wie ist die Perspektive eines Hundes? Ist
                      eine eingeschränkte Sichtweise, ja Perspektivlosigkeit Glück?
                      Will ich so leben? Schon der deutsche Dichter Gottfried
                      Benn wünschte sich zurück ins Animalische:
 
 „Oh dass wir unsere Ururahnen wären.
 Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor
 Leben und Tod, Befruchten und Gebären
 Glitte aus unseren stummen Säften hervor.
 
 Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel,
 vom Wind Geformtes und nach unten schwer.
 Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
 Wäre zu weit und litte schon zu sehr.“
 
 Aber der Kulturpessimist Gottfried Benn wusste, dass es
                      dieses Zurück nicht gibt, wir sind „zu weit“, und
                      auch Pauline de Bok ist sich darüber im Klaren. Doch mit
                      ihrer Antwort geht sie andere Wege als Benn.
 Ihr Buch ist eine sprachliche Hinwendung zur Natur und zur
                      Umwelt, die sie mit ihrem eigenen Verständnis von der
                      Welt belebt und im Bild des Sisyphos beschreibt. Das
                      beginnt mit einer das ganze Werk durchziehenden Poesie,
                      die einen von ihr mehrfach zitierten Satz des Philosophen
                      Schelling in Literatur verwandelt: „Die
                      Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf und bemerkt,
                      dass sie da ist.“ 
                      Dazu noch einmal Pauline de Bok: „Die Menschen
                      tragen die Last der Natur, dank ihres Bewusstseins wissen
                      sie, worauf jeder Lebenstrieb, jedes Streben hinausläuft.
                      Und sie wissen, dass ihr Bewusstsein ihnen letztendlich
                      nicht helfen wird. Das ist ihre Tragik. Sie wälzen den
                      Stein den Berg hinauf und wissen, wo er landen wird.
                      Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Hund.“
 
 Aber nur manchmal, möchte man hinzufügen. Denn die
                      Autorin begreift die Alleinstellung des Menschen als
                      Auftrag, der Natur seine Stimme zu leihen, und so ist ihr
                      Buch auch ein farbenprächtiges Wortspiel natürlicher
                      Vorgänge, eine literarische Verdichtung des Blühens,
                      Wachsens und Vergehens. Fast auf jeder Seite verzaubern
                      die Farbenprismen eines Sonnenunterganges, überrascht ein
                      Wolkenspiel, flimmern die Kornfelder oder gleißt der
                      Schnee. Besonders die Lautmalerei, mit der wir uns schon
                      als Kinder die Tierwelt erschlossen, wenn wir Mietz-Mietz
                      statt Katze, Hottehüh
                      statt Pferd oder Wauwau
                      statt Hund sagten, beherrscht Pauline de Bok mit großer
                      Souveränität. Und es ist ein großes Glück für den
                      Leser, dass ihre Übersetzerin Waltraut Hüsmert diese
                      sprachlichen Nuancen mit so viel Fingerspitzengefühl ins
                      Deutsche retten konnte. Da heißt es: „Dschuuu,
                      der Schornstein saugt an den Flammen“, der Hund „poft,
                      hechelt, schnaubt und fiept“, Vögel „tschilpen,
                      zwitschern und tirilieren“, und die Unken rufen: „uung uung – Schwarzseher, steht im Wörterbuch als zweite
                      Bedeutung von Unke, Pessimist. … Schelling hat recht,
                      die Natur ist beseelt.“
 
 Die Autorin geht sogar einen Schritt weiter, über die
                      Lautmalerei hinaus. Auch die Dingwelt ist bei ihr beseelt,
                      Alltagsgegenstände, Sachen wie Möbel oder Geräte führen
                      ein verborgenes Eigenleben. Als Pauline de Bok den
                      Wohnraum nach langer Zeit erstmals wieder betritt, sieht
                      sie Stühle, Tisch, Bett und Ofen, und bemerkt: „Ganz
                      kurz erhasche ich einen Hauch von ihrem Dasein ohne mich,
                      von ihrem An-sich-sein, etwas, was ein Mensch nicht
                      kann.“ Sie fühlt sich als Störenfried und bekennt ein
                      paar Seiten später: „Nur wenn ich still bin, fange ich
                      ein Echo aus der Vergangenheit auf. Ich weiß, dass hier
                      alles von der Vergangenheit durchtränkt ist, darum haben
                      die Dinge ein so starkes Eigenleben. Ich versuche mich
                      anzunähern, eine Form dafür zu finden.“ Sie folgt
                      dabei den Spuren des Philosophen Ernst Bloch. Der fragt in
                      seinem kleinen Essay unter dem Titel „Der Rücken der
                      Dinge“ über deren vermutliches Eigenleben: „Was treiben
                      die Dinge ohne uns? Wie sieht das Zimmer aus, das man verlässt?
                      Das Feuer im Ofen heizt, auch wenn wir nicht dabei sind.
                      Also sagt man, wird es dazwischen wohl auch gebrannt
                      haben, in der warm gewordenen Stube. Doch sicher ist das
                      nicht, und was die Möbel während unseres Ausgangs taten,
                      ist dunkel. Keine Vermutung ist darüber zu beweisen, aber
                      auch keine, noch so phantastische, zu widerlegen.“ Bloch
                      schließt mit der „Vexierfrage, wie das Zimmer aussieht,
                      wenn man es verlässt. Vorn ist es hell oder hell gemacht,
                      aber kein Mensch weiß noch, woraus der Rücken der Dinge besteht, den wir allein sehen, gar ihre
                      Unterseite, und worin das Ganze schwimmt.“
 
 Ich glaube, Pauline de Bok hat uns mit „Blankow“
                      exemplarisch gezeigt, woraus der Rücken der Dinge im
                      Blochschen Sinne gemacht ist. Sie verbindet in ihrer
                      autobiographisch geprägten Romanwelt auf eine überzeugende
                      Weise die Erfahrung einer ihr vertrauten Umgebung mit der
                      Geschichte der im Lande wohnenden Menschen. Geglücktes,
                      aber auch erlittenes Leben verdinglicht sich und wird so
                      fassbar. Pauline de Bok bewahrt in dieser historischen
                      Rekonstruktion Herkunft und Bestimmung der Menschen, Tiere
                      und Natur. Die Landschaft mit ihren Dörfern erhält eine
                      vierte Dimension und wird so in Raum und Zeit aufgehoben.
 
 Pauline de Boks Behutsamkeit gilt dem Gegenüber. Offen
                      bis zur Schonungslosigkeit ist sie nur bei sich selbst,
                      aber ihr Hund, der stumme Gegenspieler, rettet sie als
                      „des Pudels Kern“ vor der rabenschwarzen Melancholie
                      einer zerstörerischen Selbsterfahrung. Dafür taucht in
                      ihrem Buch – übrigens schon im Titel – ein zentraler
                      Blochscher Begriff auf: der der Heimat. Es gäbe seltene,
                      kostbare Augenblicke, wo sie aufscheine, so der Philosoph
                      in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“.
                      Augenblicke, in denen man Hoffnung, Glücksverlangen
                      empfinde. Dann, so Bloch, „entsteht in der Welt etwas,
                      das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand
                      war: Heimat.“ Heimat als Nicht-Ort, griechisch „Ou-topos“
                      (gleich „Utopie“), von dem wir bisher nur spüren,
                      dass er da sein könnte, und wünschen, dass er da sein
                      sollte.
 
 Pauline de Bok hat mit ihrem Buch den prophetischen Denker
                      Ernst Bloch, der 1961 die DDR verlassen musste, wieder in
                      unser Bewusstsein gerufen, ohne ihn direkt zu nennen. Sie
                      hat mit genauer Bobachtungsgabe, größer Könnerschaft
                      und sicherem Sprachempfinden sein philosophisches Werk übertragen
                      in bleibende, souveräne Literatur. Und ich bin sicher,
                      dass für Pauline de Bok in Blankow, diesem so realen wie
                      fiktiven Ort einer Utopie von Mensch und Natur, ihr
                      „Verlangen nach Heimat“ zumindest zeitweise in Erfüllung
                      geht.
 
 
 
 Axel Kahrs,
 
                      geboren 1950; lehrt an der Leuphana-Universität Lüneburg,Leiter der Niedersächsischen Stipendiatenstätte „Künstlerhof
                      Schreyahn“,
 Vorstandsvorsitzender der Nicolas
                      Born-Stiftung.
 
 Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literaturgeschichte,
                      Ausstellungskurator.
 Zusammen mit Fred Oberhauser Herausgeber und Verfasser von
                      „Literarischer
                      Führer Deutschland“ (Insel Verlag 2008).
 Beiträger im KLG-Literaturlexikon und den Zeitschriften
                      die horen, DIE ZEIT.
 Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland.
 
 
 
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