Annalise-Wagner-Preis 2008

Loretta Walz
Filmemacherin, Regisseurin und Autorin


Laudatio auf die Annalise-Wagner-Preisträgerin 2008

Annette Leo
„Das ist so’n zweischneidiges Schwert hier unser KZ...“. Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück
Metropol-Verlag Berlin, 2007 (ISBN 978-3-938690-61-1)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Annette Leo,

Die Jury des Annalise-Wagner-Preises hat sich in diesem Jahr einstimmig für die Auszeichnung eines Werkes entschieden, das erkundet, wie sich Menschen der Geburtsjahrgänge 1913 bis 1933 aus der ehemals mecklenburg-strelitzschen Stadt Fürstenberg – die heute zu Brandenburg gehört – an das unmittelbar benachbarte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück erinnern.

In den Jahren 1999 und 2000 leitete die Historikerin und Publizistin Annette Leo das Interview-Projekt „Die Stadt Fürstenberg und das Konzentrationslager Ravensbrück“. In Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück wurden 35 Fürstenberger Bürgerinnen und Bürger über ihre Jugend und ihren Alltag im Nationalsozialismus befragt, sowie über ihr Leben in der Kleinstadt bis ins Heute.

1938 wurde das Frauen-KZ im nahe Fürstenberg gelegenen Dorf Ravensbrück errichtet. Die Badestelle der Ravensbrücker Familien am Schwedtsee wurde gesperrt, Familien, die dort lebten, umgesiedelt. Es hieß, man errichte ein Gefängnis, in dem Verbrecherinnen, Arbeitsscheue und Huren eingesperrt würden. Die Bewohner des Ortes glaubten das. Bis 1945 durchliefen zigtausend Häftlinge das Lager, viele Hundert Bedienstete lebten in der Stadt. In einzelnen Familien wurden SS-Offiziere untergebracht. SS-Uniformen und uniformierte Aufseherinnen bestimmten das Bild der Stadt. Geschäftsleute belieferten das Lager, Bauunternehmen und Handwerksbetriebe verzeichneten eine gute Auftragslage. Fürstenberger fanden Arbeit in der Verwaltung und Versorgung des KZ oder gar als Aufseherinnen. Häftlinge arbeiteten in Betrieben der Stadt, manche sogar in Familien. Nationalsozialistische Stadtverwaltung, Propagandisten und Lehrer verbreiteten ‚ihre Wahrheit’ über die Ereignisse im Lager. Man fragte nicht. Wer zuviel fragte, bekam durchaus zu hören, dass er dorthin käme – der Fingerzeig ging über den Schwedtsee in Richtung Lager – wenn er sich der neuen Ordnung nicht anpassen würde. Der Schock kam für viele nach Kriegsende, als sie erfuhren, was am anderen Ende des Schwedtsees tatsächlich geschah.

Keiner der Befragten hatte ein leichtes Leben, weder nach dem Kriegsende, noch zu Zeiten der DDR. Das Lager – so meinen viele Fürstenberger – habe ihnen nicht nur eine schwere historische Last, sondern auch die sowjetische ‚Besatzung’ ihres Ortes beschert. 1989 hatte Fürstenberg ca. 5.000 Einwohner neben 30.000 sowjetischen Soldaten und Offizieren. Die Rote Armee war 1945 gekommen und geblieben.

Die Wende und der Abzug der sowjetischen Truppen im Jahr 1993/94 hinterließen eine Stadt mit vielen offenen Wunden. Der Versuch, mit touristischen Angeboten und einer dringend notwendigen Umgehungs­straße, ihre Stadt wieder attraktiv und lebensfähig zu machen, stößt immer wieder an schwer überwindbare Grenzen.
Die Differenzen zwischen den Interessen der Gedenkstätte und den Häftlingsverbänden einerseits und den Fürstenberger Bürgern andererseits erfuhren Anfang der 90er Jahre einen Höhepunkt in der Affäre um den Bau eines Supermarktes. Bis vor kurzem bestimmten die Verhandlungen über eine Umgehungsstraße dieses Verhältnis.
Dass die Gedenkstätte mehr Besucher in die Stadt bringt als die touristischen Angebote, mag kaum ein Fürstenberger zugeben.
Die Wenigsten möchten das Leiden der Häftlinge in ihrer unmittelbaren Nähe schmälern, doch sie wünschen sich auch einen Raum für ihre eigene erlebte Geschichte.

Mit Sicherheit haben weder Annette Leo, noch ihr Kollege Jens Schley vorher geahnt, was sie sich mit diesem Projekt vorgenommen haben. Sie konnten nicht im Einzelnen wissen, wie vernarbt die Wunde der Geschichte war, in die sie stießen. Und sie ahnten auch nicht, wie gerade an diesem Ort Erinnerungskultur funktionalisiert wurde und gewirkt hat.

Ziel des Projektes war es, lebensgeschichtliche Interviews aufzuzeichnen, das heißt, sich von den Menschen erzählen zu lassen, was sie erinnern, wie sie erinnern und was sie überhaupt für erinnerungswürdig halten.
Anders als bei Interviews, in denen vorbereitete konkrete Fragen gestellt und beantwortet werden, ist der lebensgeschichtliche Ansatz einer, in dem sich die Interviewerin auf ihr Gegenüber einlässt – und meist vorher nicht einschätzen kann, wie lange das dauern wird und wie intensiv ein Leben vor ihr aufblüht.
Im klassischen Sinne sollte ein solches Interview drei Phasen haben: Die erste Phase beginnt mit der Bitte: „Erzählen Sie uns ihr Leben – so ausführlich Sie können oder mögen“. In diesem ersten Interviewteil sollte der Gesprächsfluss nicht unterbrochen werden und auch keine Zwischenfragen gestellt werden. Die zweite Phase besteht aus Nach- und Verständnis­fragen zum Gesagten. In der dritten Phase werden dann Fragen zum Thema gestellt.

Das hört sich einfach an – aus eigener Erfahrung mit lebensgeschichtlichen Interviews weiß ich, dass dies so nicht immer funktioniert, dass sich in manchen Gesprächen eine Eigendynamik entwickelt, die von der Interviewerin fordert, ihr Muster zu verlassen und sich dem Interviewpartner, der beispielsweise das Gespräch – den Austausch – sucht,  zu stellen.

Erfahrungsgemäß klappt das klassische Vorgehen in lebensgeschichtlichen Interviews dann nicht, wenn Interviewpartner beispielsweise verunsichert sind wegen des Themas, um das es geht – oder  wenn sie sich in der Defensive wähnen. Manchmal auch, wenn sie in ihrer Haltung zum gestellten Thema zwiespältig sind – so wie die Fürstenberger in ihrem Verhältnis zum KZ – wie viele die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück noch heute nennen.

In der „erzählten Geschichte“ werden Ereignisse lebendig, weil sie verknüpft werden mit Alltäglichem, mit scheinbar Banalem. Es bleibt Raum für persönliches Befinden. Die Verknüpfung eines historischen Ereignisses beispielsweise mit sonnigem Wetter oder Regen, muss nicht der tatsächlichen Wetterlage zur Zeit des Geschehens entsprechen. Es kann auch Ausdruck des erinnerten Empfindens sein.

Annette Leo ist eine erfahrene Interviewerin. In einem gemeinsamen Interviewprojekt, an dem wir seit zwei Jahren arbeiten, erlebe ich sie als ausgesprochen geduldige und aufmerksame Zuhörerin, als emphatische Nachfragerin, der kaum ein Widerspruch entgeht und die geradezu mit detektivischer Präzision in Lebens-Geschichten und ihre Brüche eintaucht. Gleichzeitig ist sie in den Gesprächen mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrer Haltung und ihrem Wissen präsent und reagiert mit großer Sensibilität auf emotionale Äußerungen. Annette Leo ist sich bei ihren Interviews bewusst, dass IHR die Geschichte erzählt wird, die auf sie zugeschnitten ist – Frau im reifen Alter – folglich mit einer guten Portion Lebenserfahrung ausgestattet -, eine zierliche, freundlich schauende Person, die selbstbewusst auftritt und der man allemal zutraut, dass sie von tragischen Geschichten nicht umgeworfen wird.

Vielleicht war der Ansatz des Projektes – lebensgeschichtliche Interviews zu führen und den Themenschwerpunkt auf das Verhältnis der Fürstenberger zum KZ zu legen – etwas gewagt oder zumindest – und das gesteht sich Annette Leo selbst ein – ein wenig kurzsichtig in Bezug auf die Ängste all derer, die sich ständig fürchten müssen vor den Schuldzuweisungen, mitgetan zu haben am grausamen System der nationalsozialistischen Konzentrationslager – und das nur, weil ein solches in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft errichtet wurde.

Annette Leo und ihr Kollege trafen anfangs nicht nur auf eine Mauer des Schweigens, sie trafen auch auf Mauern der Verbitterung, der Verdrängung und auf eingemauerte Geschichten, die einzig den Zweck hatten, mit der gemachten Erfahrung leben zu können. Sie standen vor verschlossenen Türen und selbst verabredete Gespräche wurden abgesagt. Sie brauchten viel Durchhaltevermögen, um mit den Menschen ins Gespräch und letzten Endes zum Interviews zu kommen.
Und dann stießen sie oftmals auf verschlüsselte, widersprüchliche Geschichten – vielfältige Versionen desselben Ereignisses. Recht­fertigungen für Nichtbegangene Taten, Antworten auf Nichtgestellte Fragen nach Schuld oder Unschuld – Nichtverarbeitetes also, das die Menschen aufwühlte und sie immer weiter in Widersprüche verwickelte. Vieles, so schreibt Annette Leo, wird sich nie mehr genau klären lassen. Im Interview mit der tageszeitung sagte sie, dass sie eine Menge Abwehr und Klischees, mit denen sie aufgewachsen ist, überwinden musste, um ein echtes Interesse an den Geschichten der Fürstenberger zu entwickeln. Am Ende ist es ihr mit dem vorliegenden Buch gelungen, indem sie genau diesen Prozess in ihren Text einfließen lässt.

Das Problem der ‚Fürstenberger’ ist kein individuelles. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind verheerend und unvergleichlich. Das was den Häftlingen in Konzentrationslagern wie dem in Ravensbrück angetan wurde, ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit, das für viele nach wie vor unvorstellbar ist.
Die Fürstenberger hatten neben diesem gewaltigen Unrecht nie einen Raum für ihr eigenes im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebtes Leid, das in ihre Familien und in ihre Seelen tiefe Wunden gerissen hat.
Wann immer sie hätten davon erzählen wollen, wären sie in den Verdacht geraten, ihr Leid mit dem der Häftlinge vergleichen zu wollen – vielleicht wären sie gar dem Argwohn ausgesetzt, das Leiden der Gefangenen im Lager schmälern, wenn nicht gar verharmlosen zu wollen.

Wo also fanden sie einen Platz für ihr Leid? Was wäre geschehen, wenn jemand zugegeben hätte, alles gewusst zu haben, was hinter den Mauern des KZ geschah?  Welche Souveränität und Stärke hätte es gebraucht, zu sagen: Ja, ich habe mitgetan, ich habe die SS in ihrem grausamen Tun unterstützt? Nur ganz wenige ‚Täter’ haben diese Stärke je aufgebracht.

Annette Leo hat die gesammelten Interviews zu einem Buch zusammen­gefasst – ein Buch, in dem nicht nur die Fürstenberger Raum bekommen für ihre Geschichte und Geschichten, sondern auch das Thema der Erinnerung einen umfangreichen Platz einnimmt.
Das Buch von Annette Leo ist ein kleines, feines Buch, das die Menschen, die in ihm vorgestellt werden bei sich belässt – in ihren Stärken ebenso wie in ihren Unzulänglichkeiten. Das macht es nicht bequem – im Gegenteil: die vorgestellten Fürstenbergerinnen und Fürstenberger hinterlassen einen vielschichtigen Eindruck – manchmal fühlt man den Schmerz, der hinter den Erinnerungen wohnt und möchte tröstend eingreifen, manchmal möchte man sie schütteln und zu mehr Genauigkeit in ihrer Sprache mahnen. Mal möchte man sagen, stell dich der Erinnerung und ertränke sie nicht – und wiederum manchmal fühlt man mit der Interviewerin, die verzweifelt versucht, die ungeordneten Gedanken zu einem verständlichen Bild zu ordnen. Annette Leo glättet die Geschichte nicht, sie belässt sie in dem Zustand, in dem sich Geschichte nun mal befindet: lebendig.

Die Arbeit von Annette Leo hat sicherlich eine Türe aufgestoßen, die es späteren Projekten möglich machte, einen Zugang zu ‚den Fürstenbergern’ zu finden. Vielleicht haben die Fürstenberger auch durch dieses Projekt erfahren, dass es Menschen gibt, die ihnen zuhören und auch ein Ohr für ihre Sicht der Dinge haben.

Die Jury der Annalise-Wagner-Stiftung begründet ihr Entscheidung für die Preisträgerin u.a. wie folgt: „Diese Darstellung von Brüchen und Widersprüchen in Geschichte und Erinnerungs­prozessen ist für die Jury Beispiel für einen neuen Ansatz des Gedenkens in einer veränderten Geschichtskultur, der weniger in Schwarz-Weiß-Kategorien als in Widersprüchlichkeiten argumentiert, ohne nationalsozialistische und kommunistische Diktatur gleichzusetzen oder NS-Verbrechen zu verharmlosen.“ ... und weiter: „Annette Leos stilistisch virtuos gehandhabte Interview- und Kommentartechnik, ihre dichte Erzählung und ihr leiser Ton tragen wesentlich dazu bei, dass dieser Text eine „aktive Haltung des Erinnerns“ fördert, dass er Fragen auslöst nach Komplexität und Widersprüchlichkeit historischer Prozesse, nach individuellen und gesellschaftlichen Erinnerungsprozessen, nach der Gefährlichkeit aktueller rechtsextremer Bestrebungen, vor allem aber nach Vergleichbarkeit heutiger individueller Entscheidungs­situationen und nach persönlicher  Verantwortung.“

Annette Leo zeigt in ihrem Buch auf überaus sensible Weise, wie die Menschen mit den eigenen Kriegs- und Nachkriegs-Erfahrungen gelebt haben, welche Brüche ihre Erinnerung hat – aber sie zeigt keinesfalls mit dem Finger darauf – sie entwickelt in Zitaten ihrer Interviewpartner und in eigenen Worten ein mögliches Bild der Geschehnisse. Sie stellt Fragen und lässt sie offen. So kann ich mir als Leserin ein Bild machen – und es entstehen lebendige Bilder in Annette Leos feingliedrigem Text. Sicherlich bei jedem Leser andere – und das ist gut so. Denn nur, wenn wir von anderen erfahrene Geschichte mit der eigenen Erfahrung verweben, entsteht so etwas wie neue Erkenntnis. Und die Geschichte sollten wir erkennen, um sie nicht wiederholen zu müssen.

Ich gratuliere Annette Leo ganz herzlich zu diesem Preis.

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