Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und
Freunde,
wie sich bedanken für diesen stattlichen Preis, für persönliche
Fürworte und Aufmerksamkeit, wenn es einem das Verbale
fast verschlägt? Wenn die Stimme ungeübt ist. Als
Schreiber, der ja schreibt, auch, um nicht reden zu müssen.
Zudem ein Norddeutscher, dem Emotionen immer nach innen
abrutschen wollen, auch Freude, nach außen kaum, selbst
zu Weihnachten. Und als so einer von der
Annalise-Wagner-Stiftung und ihrer Jury zum Ersten erkoren
zu sein, als erster Preisträger überhaupt kein
Regionalliterat, doch ein Literat aus dieser Region. Da wächst
mit dem Stolz eine Verlegenheit.
Vielleicht zurückzahlen in Raten, Dank abstottern mit
Angaben zu Lebensläufen und -umständen von Menschen, die
zu einem variierenden Prozentsatz erfunden und
hochprozentig unzureichend als Erzählungen bezeichnet
sind.
Danken vielleicht mit der kurzen Erzählung vom dem da auf
der Couch.
Weil er liegt, ist die Erzählperspektive horizontal. Die
Erzählhaltung ist unbequem, denn er lagert auf einem
Trendmöbel, wie für Zwerge gemacht. Nacken und Beine
verspannen auf hohen Lehnen. Erzählte Zeit ist ein
Urlaubstag ohne Familie in der ersten Neunziger-Jahre-Hälfte.
Der FC Hansa fährt noch zweiter Klasse, die TSG in der
Annalisenstadt befindet sich fern jeden Aufschwungs. Das Möbel
trägt die Farbe der Saison. Lila.
Der da fläzt zwischen den Wänden seines Refugiums, von Bücherregalen
gedämmt und isoliert, überdenkt die Situation. Die ist
schwierig, außerhalb des Refugiums. Das Leben, draußen,
verlangt von ihm höchste Professionalität. Eine
Platzhirschmentalität. Platzhirschmentalität. Was soll
das sein? Soll er nicht mehr rot werden dürfen, keine
Spur von Schüchternheit zeigen, ohne Versagen auskommen?
Dabei besitzt er hervorragende Fähigkeiten im Erröten,
seine Schüchternheit ist legendär, er gilt als
brillanter Versager. Als einer, der, auch schon mehr ein
mittiger als ein früher Dreißiger, noch immer von
unternehmungslustiger Phantasie gepeinigt wird. Dabei
sollen doch allein zählen Fakten, Fakten, Fakten.
Er liegt auf der Couch und probiert, ob sein rechter Arm
bis zu diesem Glasdings reicht, das Beistelltisch heißt.
Er reicht, er hätte Zugriff. Das Papier auf dem
Glasdings, A 4, linien- und karolos, befindet sich in
Reichweite. Drei Bleistifte sind gespitzt, der Marke
Giraffe-Steno, Bohemia Works, Czechoslovakia, EVP 0,23,
einem Restposten abgeramscht. Das Für-Sich-Sein zu
verteidigen und vollkommen zu machen, fehlt es am Material
nicht, auch der Ballast eines Studiums bei Rostocks
Germanisten wäre spielend auf eine tragbare Last zu
reduzieren. Einfach abwerfen! Woran fehlt es also: An der
Traute, noch. Dabei ist doch die Geschichte längst
fertig, im Kopf. Die Geschichte über den Bibliothekar
Bertram, der eine Dorfausleihe aufzulösen hat. Die
Geschichte ist im Kopf fertig und also längst
Wirklichkeit, er hätte diese Wirklichkeit lediglich
abzubilden, eins zu eins aus dem Kopf aufs Papier zu
kopieren. Meint er. Wenn da diese Ahnung nicht wüchse,
die Wirklichkeit sträubte sich gegen seine Abbildung, da
er ihre Unberechenbarkeit nicht hinreichend würdigte. Die
Wirklichkeit legt Wert auf ihre Unberechenbarkeit, das
gewisse Etwas. Die Wirklichkeit, sie muss weiblich sein.
Womöglich übernähme diese Xanthippe allmählich selbst
die Regie und degradierte ihn, den da auf der Couch, zum
bescheiden Mitwirkenden in der eigenen Geschichte.
Reizende Aussichten!
Harry Mulisch grinst wohlwissend vom Bücherregal auf ihn
herunter. Stefan Zweig, anderthalb Festmeter weiter links,
ängstigt ihn mit seinem Tagespensum: Morgens setze ich
ein Komma, abends radiere ich es aus. Und Kurt Vonnegut,
knapp unter der Decke, teilt von oben herab die Meute der
Schriftsteller in zwei Lager: Die Knallis und die Huschis.
Knallis machen einen Satz nach dem anderen, jeder muss
erst stimmen, ehe der nächste folgen darf. Huschis
schreiben holterdipolter, rumpeldipumpel, egal wie, und
stellen danach lauter Grässlichkeiten fest und reparieren
notdürftig, was nicht funktioniert. Vonnegut ordnete den
da auf der lila Couch, wenn er denn endlich losschriebe,
den Huschis zu. Eine Gemeinheit. Diese Regalfreundchen
sind brutal ehrlich zu ihm, er wird sich rächen, indem er
sie ab sofort nur noch als Handwerker betrachtet.
Schreiben scheint schwierig, angeblich gerät man in die Fänge
einer Zwanghaftigkeit. Das Fräulein Wagner aus
Neustrelitz soll erfasst worden sein von einer solchen
Verbiesterung. Schriebe er, endlich, und schöbe es nicht
fadenscheinig immer wieder auf, gäbe es zwischen ihnen
beiden eine Gemeinsamkeit. Eine weitere, wäre er radikal
wie sie. Eine weitere, wäre er eruptiv wie sie. Doch ihre
Radikalität und vulkanischen Ausbrüche können ihn nur
neidisch machen. Er ist, weiß Gott, alles andere als ein
annalisenhafter Allround-Dissident. Ein stilles Gewässer
eher, inmitten beunruhigender Eloquenz. Er spürt nun,
dass er in seinem Refugium nicht mehr sicher sein kann.
Vor sich selbst. Die horizontalen Augenblicke ticken ihm
weg.
An Anregung herrscht kein Mangel. Allein die Sippschaft
umwuchert ihn mit einem Dickicht aus Anekdoten. Zehn
langlebige Onkel und Tanten väterlicherseits, die
Zugeheirateten dazu, das Rudel Neffen und Nichten.
Botschafter des Absurden im uckermärkisch-mecklenburgischen
Grenzland vom frühen zwanzigsten Jahrhundert bis in die
Gegenwart. Große Berichterstatter und kein Langweiler
darunter. Alle zusammen könnten ein Dorf bevölkern, es würde
darin laut zugehen und gallisch. Osteuropa wird mütterlicherseits
eingebracht, Wolhynien, das Wartheland, Klütersuppe. Ein
Flüchtlingsschicksal, ihm von kleinauf als Klage
vorgetragen. Es geschah erst kürzlich, dass er der Klage
zum ersten Mal zuhörte und Rückfragen stellte. Literatur
besitzt Macht über Geographie, schiebt Heimaten und damit
Erinnerungen heran, bis zu ihm in den Neubrandenburger
Plattenbau, bis zu ihm auf die Couch. Er selbst könnte
eine Schatztruhe, prall gefüllt mit Skepsis und
Selbstzweifeln, beisteuern.
Dem da auf der Couch bricht der Rechtfertigungsschweiß
aus. Wie seine Tatenlosigkeit entschuldigen noch, vor
sich? Panisch nach Ausflüchten suchen. Er sei bar jeden
Sendungsbewusstseins, redet er sich ein, ohne moralische
Vision, komplett unannalisisch. Er habe schon zu viele Erzählungen
gelesen und damit Einbußen an der notwendigen Naivität
erlitten, um nun selbst eine zu schreiben. Er vermöge ja
gar nicht zu erzählen, vermöge - eventuell - Szenen zu
bilden und aneinander zu kleben, was nur bei gutem Willen
als eine Art Leporello-Stil durchgehen könnte. Seine
Phobie vor Langeweile beschwört die Gefahr des Klamauks
herauf. Immer und immer wieder unterliefe ihm Humor,
selbst bei ernsthaftesten Fragen, bei denen von Schuld und
Sühne und Liebe und Hass. Und dann dieser Faible für
unprominente Sturköpfe, abseitige Originale, verletzliche
Ecksteine, Außenseiter, auf Skalen allgemeiner
Beliebtheit im wagnerischen Tiefbereich zu finden. Und
dann auch noch sein das Hauptsächliche beleidigender Sinn
fürs Nebensächliche: Wie akkurat saß die Frisur, als
sie auf ihr brennendes Haus starrte? Und was, wenn er,
aktuell veranlasst, eine Zwangsarbeiter-Erfahrung seiner
Ahnen allmählich von den Tatsachen und Personen löste,
um neue Tatsachen und Personen zu erfinden? Aus Geschichte
eine Geschichte bastelte, etwa mit dem Titel Repliken.
Annalise, da ist er sicher, genehmigte ihm dies. Doch der
Vater würde grummeln: Allet erstunken und erlogen! Junge,
du musst schon richtich zuhörn, wenn ick dir wat erzähl.
Wenn er den Kopf auf der Couchlehne nach rechts dreht,
sieht durch die Fensterscheibe und zwischen zwei
Plattenbauecken den Datzeberg-Himmel. Graues Gewölk
bildet einen Mund, der spricht zu ihm: Du sollst ein Profi
sein. Von Berufs wegen weiß er, was er abends in den
Computer befohlen hat, am Morgen gedruckt auf mehr als 100
000 Frühstückstischen. Hansa und dem annalisenstädtischen
TSG-Fußball steht ein Aufschwung bevor, er fühlt es. Den
zu dokumentieren ist seine Pflicht, der Zeitungsleser sein
Boss. Wenn er nun - ihm bleiben nur wenige Sekunden noch -
unverlangt und höchst freiwillig und ohne Zeitregime und
etwas ganz anderes zu schreiben beginnt, wird er an Öffentlichkeit
nicht denken. Er, nimmt er sich vor, soll hier Schreiber
und Leser in persona sein. Was im Refugium entstände,
verließe das Refugium nicht. Top secret! Jedoch, schwant
ihm, irgendwann schlüge - besten Vorsätzen zum Trotz -
seine verdammte Eitelkeit durch. Ein Belletristik-Buch ist
auch immer eine Eitelkeit, und er ist anfällig.
Doch wären zunächst große Niederlagen zu
erringen mit seinen Erzählungen, da deutsche Verleger im
Babyalter nicht als erstes das Wort Mama zu lallen lernen,
sondern ein verheultes Nein. Mit diesem Krimskrams vom
platten Lande, würde bedauernd abgelehnt, seien Blumentöpfe
nicht zu gewinnen, geschweige Preise. Womöglich gerät er
dann aber doch einmal an einen Aus-der-Art-Geschlagenen,
der ein Ja sagte, und ihm ein Vertrauensdarlehen gewährte,
unverzinst. Der müsste nicht einer im großen Berlin, könnte
einer im kleinen Friedland sein. Wer weiß? Und der da auf
der Couch erträumt sich weitere selbstlose Helfer, die
hinter seinem Rücken gut über ihn reden, nennt diese
Erzfreunde probeweise bei Vornamen: Suse, Detlef, Didi,
Dirk, Sven, Jens-Uwe, Frauke, Helmut, Gerda, Friederike,
Siegfried. Auch Frau und Tochter, zwei wohlgeratene
Weibsen, verfügten über ein erstaunliches Reservoir
Geduld mit ihm.
Der da auf Couch ist an Ausflüchten pleite. Er setzt sich
auf. Es ist ein magischer, unteilbarer Augenblick
gekommen. Er angelt sich einen Bohemia-Stift, ein Blatt
und schreibt diesen Satz: Bertram sitzt.
Das Abenteuer beginnt.
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