Annalise-Wagner-Preisträger 2004

Roland Gutsch: Dankrede zum Annalise - Wagner - Preis 2004

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

wie sich bedanken für diesen stattlichen Preis, für persönliche Fürworte und Aufmerksamkeit, wenn es einem das Verbale fast verschlägt? Wenn die Stimme ungeübt ist. Als Schreiber, der ja schreibt, auch, um nicht reden zu müssen. Zudem ein Norddeutscher, dem Emotionen immer nach innen abrutschen wollen, auch Freude, nach außen kaum, selbst zu Weihnachten. Und als so einer von der Annalise-Wagner-Stiftung und ihrer Jury zum Ersten erkoren zu sein, als erster Preisträger überhaupt kein Regionalliterat, doch ein Literat aus dieser Region. Da wächst mit dem Stolz eine Verlegenheit.

Vielleicht zurückzahlen in Raten, Dank abstottern mit Angaben zu Lebensläufen und -umständen von Menschen, die zu einem variierenden Prozentsatz erfunden und hochprozentig unzureichend als Erzählungen bezeichnet sind.

Danken vielleicht mit der kurzen Erzählung vom dem da auf der Couch.

Weil er liegt, ist die Erzählperspektive horizontal. Die Erzählhaltung ist unbequem, denn er lagert auf einem Trendmöbel, wie für Zwerge gemacht. Nacken und Beine verspannen auf hohen Lehnen. Erzählte Zeit ist ein Urlaubstag ohne Familie in der ersten Neunziger-Jahre-Hälfte. Der FC Hansa fährt noch zweiter Klasse, die TSG in der Annalisenstadt befindet sich fern jeden Aufschwungs. Das Möbel trägt die Farbe der Saison. Lila.

Der da fläzt zwischen den Wänden seines Refugiums, von Bücherregalen gedämmt und isoliert, überdenkt die Situation. Die ist schwierig, außerhalb des Refugiums. Das Leben, draußen, verlangt von ihm höchste Professionalität. Eine Platzhirschmentalität. Platzhirschmentalität. Was soll das sein? Soll er nicht mehr rot werden dürfen, keine Spur von Schüchternheit zeigen, ohne Versagen auskommen? Dabei besitzt er hervorragende Fähigkeiten im Erröten, seine Schüchternheit ist legendär, er gilt als brillanter Versager. Als einer, der, auch schon mehr ein mittiger als ein früher Dreißiger, noch immer von unternehmungslustiger Phantasie gepeinigt wird. Dabei sollen doch allein zählen Fakten, Fakten, Fakten.

Er liegt auf der Couch und probiert, ob sein rechter Arm bis zu diesem Glasdings reicht, das Beistelltisch heißt. Er reicht, er hätte Zugriff. Das Papier auf dem Glasdings, A 4, linien- und karolos, befindet sich in Reichweite. Drei Bleistifte sind gespitzt, der Marke Giraffe-Steno, Bohemia Works, Czechoslovakia, EVP 0,23, einem Restposten abgeramscht. Das Für-Sich-Sein zu verteidigen und vollkommen zu machen, fehlt es am Material nicht, auch der Ballast eines Studiums bei Rostocks Germanisten wäre spielend auf eine tragbare Last zu reduzieren. Einfach abwerfen! Woran fehlt es also: An der Traute, noch. Dabei ist doch die Geschichte längst fertig, im Kopf. Die Geschichte über den Bibliothekar Bertram, der eine Dorfausleihe aufzulösen hat. Die Geschichte ist im Kopf fertig und also längst Wirklichkeit, er hätte diese Wirklichkeit lediglich abzubilden, eins zu eins aus dem Kopf aufs Papier zu kopieren. Meint er. Wenn da diese Ahnung nicht wüchse, die Wirklichkeit sträubte sich gegen seine Abbildung, da er ihre Unberechenbarkeit nicht hinreichend würdigte. Die Wirklichkeit legt Wert auf ihre Unberechenbarkeit, das gewisse Etwas. Die Wirklichkeit, sie muss weiblich sein. Womöglich übernähme diese Xanthippe allmählich selbst die Regie und degradierte ihn, den da auf der Couch, zum bescheiden Mitwirkenden in der eigenen Geschichte. Reizende Aussichten!

Harry Mulisch grinst wohlwissend vom Bücherregal auf ihn herunter. Stefan Zweig, anderthalb Festmeter weiter links, ängstigt ihn mit seinem Tagespensum: Morgens setze ich ein Komma, abends radiere ich es aus. Und Kurt Vonnegut, knapp unter der Decke, teilt von oben herab die Meute der Schriftsteller in zwei Lager: Die Knallis und die Huschis. Knallis machen einen Satz nach dem anderen, jeder muss erst stimmen, ehe der nächste folgen darf. Huschis schreiben holterdipolter, rumpeldipumpel, egal wie, und stellen danach lauter Grässlichkeiten fest und reparieren notdürftig, was nicht funktioniert. Vonnegut ordnete den da auf der lila Couch, wenn er denn endlich losschriebe, den Huschis zu. Eine Gemeinheit. Diese Regalfreundchen sind brutal ehrlich zu ihm, er wird sich rächen, indem er sie ab sofort nur noch als Handwerker betrachtet. Schreiben scheint schwierig, angeblich gerät man in die Fänge einer Zwanghaftigkeit. Das Fräulein Wagner aus Neustrelitz soll erfasst worden sein von einer solchen Verbiesterung. Schriebe er, endlich, und schöbe es nicht fadenscheinig immer wieder auf, gäbe es zwischen ihnen beiden eine Gemeinsamkeit. Eine weitere, wäre er radikal wie sie. Eine weitere, wäre er eruptiv wie sie. Doch ihre Radikalität und vulkanischen Ausbrüche können ihn nur neidisch machen. Er ist, weiß Gott, alles andere als ein annalisenhafter Allround-Dissident. Ein stilles Gewässer eher, inmitten beunruhigender Eloquenz. Er spürt nun, dass er in seinem Refugium nicht mehr sicher sein kann. Vor sich selbst. Die horizontalen Augenblicke ticken ihm weg.

An Anregung herrscht kein Mangel. Allein die Sippschaft umwuchert ihn mit einem Dickicht aus Anekdoten. Zehn langlebige Onkel und Tanten väterlicherseits, die Zugeheirateten dazu, das Rudel Neffen und Nichten. Botschafter des Absurden im uckermärkisch-mecklenburgischen Grenzland vom frühen zwanzigsten Jahrhundert bis in die Gegenwart. Große Berichterstatter und kein Langweiler darunter. Alle zusammen könnten ein Dorf bevölkern, es würde darin laut zugehen und gallisch. Osteuropa wird mütterlicherseits eingebracht, Wolhynien, das Wartheland, Klütersuppe. Ein Flüchtlingsschicksal, ihm von kleinauf als Klage vorgetragen. Es geschah erst kürzlich, dass er der Klage zum ersten Mal zuhörte und Rückfragen stellte. Literatur besitzt Macht über Geographie, schiebt Heimaten und damit Erinnerungen heran, bis zu ihm in den Neubrandenburger Plattenbau, bis zu ihm auf die Couch. Er selbst könnte eine Schatztruhe, prall gefüllt mit Skepsis und Selbstzweifeln, beisteuern.

Dem da auf der Couch bricht der Rechtfertigungsschweiß aus. Wie seine Tatenlosigkeit entschuldigen noch, vor sich? Panisch nach Ausflüchten suchen. Er sei bar jeden Sendungsbewusstseins, redet er sich ein, ohne moralische Vision, komplett unannalisisch. Er habe schon zu viele Erzählungen gelesen und damit Einbußen an der notwendigen Naivität erlitten, um nun selbst eine zu schreiben. Er vermöge ja gar nicht zu erzählen, vermöge - eventuell - Szenen zu bilden und aneinander zu kleben, was nur bei gutem Willen als eine Art Leporello-Stil durchgehen könnte. Seine Phobie vor Langeweile beschwört die Gefahr des Klamauks herauf. Immer und immer wieder unterliefe ihm Humor, selbst bei ernsthaftesten Fragen, bei denen von Schuld und Sühne und Liebe und Hass. Und dann dieser Faible für unprominente Sturköpfe, abseitige Originale, verletzliche Ecksteine, Außenseiter, auf Skalen allgemeiner Beliebtheit im wagnerischen Tiefbereich zu finden. Und dann auch noch sein das Hauptsächliche beleidigender Sinn fürs Nebensächliche: Wie akkurat saß die Frisur, als sie auf ihr brennendes Haus starrte? Und was, wenn er, aktuell veranlasst, eine Zwangsarbeiter-Erfahrung seiner Ahnen allmählich von den Tatsachen und Personen löste, um neue Tatsachen und Personen zu erfinden? Aus Geschichte eine Geschichte bastelte, etwa mit dem Titel Repliken. Annalise, da ist er sicher, genehmigte ihm dies. Doch der Vater würde grummeln: Allet erstunken und erlogen! Junge, du musst schon richtich zuhörn, wenn ick dir wat erzähl.

Wenn er den Kopf auf der Couchlehne nach rechts dreht, sieht durch die Fensterscheibe und zwischen zwei Plattenbauecken den Datzeberg-Himmel. Graues Gewölk bildet einen Mund, der spricht zu ihm: Du sollst ein Profi sein. Von Berufs wegen weiß er, was er abends in den Computer befohlen hat, am Morgen gedruckt auf mehr als 100 000 Frühstückstischen. Hansa und dem annalisenstädtischen TSG-Fußball steht ein Aufschwung bevor, er fühlt es. Den zu dokumentieren ist seine Pflicht, der Zeitungsleser sein Boss. Wenn er nun - ihm bleiben nur wenige Sekunden noch - unverlangt und höchst freiwillig und ohne Zeitregime und etwas ganz anderes zu schreiben beginnt, wird er an Öffentlichkeit nicht denken. Er, nimmt er sich vor, soll hier Schreiber und Leser in persona sein. Was im Refugium entstände, verließe das Refugium nicht. Top secret! Jedoch, schwant ihm, irgendwann schlüge - besten Vorsätzen zum Trotz - seine verdammte Eitelkeit durch. Ein Belletristik-Buch ist auch immer eine Eitelkeit, und er ist anfällig.    Doch wären zunächst große Niederlagen zu erringen mit seinen Erzählungen, da deutsche Verleger im Babyalter nicht als erstes das Wort Mama zu lallen lernen, sondern ein verheultes Nein. Mit diesem Krimskrams vom platten Lande, würde bedauernd abgelehnt, seien Blumentöpfe nicht zu gewinnen, geschweige Preise. Womöglich gerät er dann aber doch einmal an einen Aus-der-Art-Geschlagenen, der ein Ja sagte, und ihm ein Vertrauensdarlehen gewährte, unverzinst. Der müsste nicht einer im großen Berlin, könnte einer im kleinen Friedland sein. Wer weiß? Und der da auf der Couch erträumt sich weitere selbstlose Helfer, die hinter seinem Rücken gut über ihn reden, nennt diese Erzfreunde probeweise bei Vornamen: Suse, Detlef, Didi, Dirk, Sven, Jens-Uwe, Frauke, Helmut, Gerda, Friederike, Siegfried. Auch Frau und Tochter, zwei wohlgeratene Weibsen, verfügten über ein erstaunliches Reservoir Geduld mit ihm.

Der da auf Couch ist an Ausflüchten pleite. Er setzt sich auf. Es ist ein magischer, unteilbarer Augenblick gekommen. Er angelt sich einen Bohemia-Stift, ein Blatt und schreibt diesen Satz: Bertram sitzt.

Das Abenteuer beginnt.

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