Annalise-Wagner-Preisträger 2003

Matthias Wolf: Dankrede zum Annalise - Wagner - Preis 2003

 

Meine Damen und Herren,

seien sie bedankt für einen Preis, der den Namen Annalise Wagner trägt. 

Ich habe sie persönlich nicht gekannt und bin ihr doch verbunden, sitze ich, dies schreibend, auf einem Stuhl, ersteigert aus ihrem Nachlass. Er bedarf der Rekonstruktion, zwei Schrauben in der Lehne und lose Binsen auf der Sitzfläche. Auch ihr Wäschekorb, aus Weide versteht sich, ist jeden Herbst im Einsatz beim Bergen der Äpfel aus dem Nachbargarten der Brigitte Reimann, vorzugsweise für Most, „Brigittes Bester“ genannt. Begleitumstände - ich habe mit dem Preis den Auftrag, sie damit zu unterhalten.

Das Gedächtnis, griechisch Mnemosyne, Tochter des Himmels und der Erde, ist die Mutter der neun Musen, Beschützerinnen von Kunst und Wissenschaft. Die ersten drei Zeilen der Hymne Hölderlins auf das Gedächtnis lauten in der zweiten Fassung (1803): „Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / die Sprache in der Fremde verloren.“ Das ist die negative Utopie.

Annalise Wagner bin ich nie begegnet. Ich kann heute in ihr Archiv gehen, das Gedächtnis dieser Region, oder wieder ihre Broschüren lesen. Eine Annalise-Wagner-Straße gibt es noch nicht, weder in Neubrandenburg, warum nicht? wer hat da Angst vor wem?, noch in Neustrelitz, wo mit dem Kiefernheider Hauptweg namens Karbe-Wagner-Straße eher ein fauler Kompromiss verläuft, der nach Marx-Engels-Platz riecht. Ihre Verdienste verdienen mehr als einen Ort der Wirkung, um Zeichen zu deuten und eine Sprache dafür zu finden. Der Preis, aus ihrem Vermögen gestiftet und jährlich in ihrem Namen verliehen, erinnert an Wirksamkeit, Weitsicht und Feinsinn einer Bürgerin, die von vielen ihrer Zeitgenossen als unzeitgemäß empfunden wurde - und wird. Ein schwieriger Mensch, aber leichter sei es keinem gemacht, ihr Lebenswerk zu wichten. 

Ich kam in diese Landschaft, als sie sich zurückzog zum Sterben. Enttäuscht von ihrer Heimatstadt Neustrelitz und im letzten Testament deutlich genug formuliert, hat sie außer Wohnhaus, Grundstück und Archiv alle persönlichen Gegenstände der vormaligen Stadt- und Bezirksbibliothek Neubrandenburg übereignet, für sie eine letzte Erbin der verloren gegangenen Landesbibliothek der einstigen Residenz. Zu der Zeit, es muss Sommer 1980 gewesen sein, fuhr ich mit dem Moped S 51 von Berlin aus auf der Fernverkehrsstraße 96 nach Norden Richtung Ostsee und musste absteigen beim Anblick des gelobten Landes am Höhenzug der Hellberge nahe Ehrenhof und Usadel. Walter Gotsmann, auch ein Heimatforscher, hat in der Nähe einen Stein bekommen, den fand ich erst später. Eine Wasserscheide, weiß ich heute; wer sie übertritt, geht in die Entwässerung Richtung Osten, weil eben hier, Tollense – Peene – Ostsee von Havel – Elbe – Nordsee, die Strelitzer Gewässer getrennt sind in Abfluss Nordost oder Südwest. Auch beim Wetter, die Grenze. Das Tollensebecken am Parkplatz Usadel neben dem Mitropa-Motel (heute eine skandalöse Ruine) war ein Tor zur Welt (Übrigens gibt es mindestens zwei ebenso spektakuläre Wasser-Blicke auf die Strelitzer Fjorde, der eine vor Wanzka an der Mühle, die Koppel rechts hoch bis zum einzigen Baum und weit über den See bis zur Eisenbahn; der andere in Carwitz, am Eingang, links geradeaus in den Schmalen Luzin, wo er abknickt nach dem Bäk zu). Ich sah mich satt. Tante Friedel und Onkel Hans in der Neutorstraße 22 in 20 Neubrandenburg (Architekt Tessenows Haus, das wusste ich erst später, hoch unter dem Dach mit schrägen Wänden und eine schmale Stiege steil hinauf) mussten warten mit dem Kakao für den Durchreisenden, der von 1982 bis 1985 öfter kam, weil er zu lernen und zu arbeiten hatte, Montags bis Freitags bei der Wasserwirtschaft in der Oststadt, jeden früh am Panzer vorbei, der heute fehlt für ein Museum. 

Dann war es die Reichsbahnstrecke 910, viel frequentiert für die Reise zwischen Bezirksstadt und Hauptstadt der DDR, Neustrelitz kein Grund zum Aussteigen, es sie denn Schienenersatzverkehr. Das war einmal, auf der anderen Seite der Nacht leuchtete fern Alt Rehse, wo ich im Pfarrhaus Leute kannte, die mir nahe waren, und ich schrieb ihnen ein Gedicht. Als die Reichsbahnstrecke 910 unwichtiger wurde zum Fortbewegen, weil mich mehr hielt in Mecklenburg, wurde wichtiger das kleine Puppentheater im Kosmosgebäude Neubrandenburgs, Funktionsbau-Flachstrecke in Plattenbauweise am Karl-Marx-Platz, wo mit Fingern eine Welt zu greifen war, an Fäden subtile Katastrophen hingen und frei stehende Bauern ihr Pferd über dem Kopf zerrissen. Da wollte ich hin. Vier Monate musste ich warten nach Abitur und Facharbeiterbrief  (Wasserwirtschaft, Sie erinnern sich), pflanzte Kiefern derweil am Reitbahnsee beim VEB Wirtschaftbetrieb Naherholung, dann gehörte ich dazu: Assistent. Das ging drei Jahre, dann wollte ich das Studieren. Theater-Wissen-Schaft. Das klappte auch, nur die Armee ließ warten, weil ich nicht schießen wollte, ich war jung und hatte Frau und Kinder (sie seien an dieser Stelle bedankt für jede nicht aufgeräumte Ecke.)

Ein alter Fachwerk-Kasten, abgestützt mit Kiefernbalken, ein Erker über der Pfaffenstraße, war es, der es mal werden sollte - das alte neue Theater Neubrandenburgs. 1988, im späten Herbst, alles auf Endzeit, wie lange noch, war es Gisela Templin, Intendantin (sie sei heute auch bedankt für den Auftrag), die mich fragte: „Willst du dich darum kümmern, was da war?“ Ich kümmerte mich. Fuhr nach Neustrelitz, ins Karbe-Wagner-Archiv, las, staunte, notierte. Im April 1989 wusste ich einiges und trug vor. Zwei schmale Hefte der Annalise Wagner waren mein Ausgangspunkt, ihren nicht genannten Quellen suchte ich später hinterher. Als ich dann 1990 schnell studieren musste, weil es teuer wurde, blieb ich bei der Suche, weil zwei junge dänische Architekten  (Irene Jensen und Carl-Christian Hansen, auch sie seien heute bedankt für ihre Genauigkeit) das alte Schauspielhaus Brett für Brett umdrehten und vermaßen für die Rekonstruktion. Schon zum Richtfest konnten wir Theaterzettel A3 aufhängen, gefunden im Theaterarchiv Neustrelitz im Jahrbuch zur dortigen Spielzeit, 1830, 1840, usw. Im April 1994 zur Eröffnung des Schauspielhauses gab es eine kurze Reprise der Einweihung 1787, „Die Reise der Schauspieler“ von Johann Carl Christian Fischer, gefunden in der Mecklenburgischen Landesbibliothek am Dom in Schwerin, das einzig verbliebene Exemplar mit dem Stempel ‚Großherzogliche Bibliothek Neustrelitz’ und dem zweiten Stempel in rot ‚Ungültig’ darüber, nunmehr gerettet als Reprint, herausgegeben und kommentiert.

1996 hatte ich fertig bei Humboldts in Berlin als Magister und kein Ort nirgends zum bezahlten Arbeiten, es sei denn ABM als Heimatforscher, wo ich doch Theater machen wollte und musste. Da sparte das Theater 2 Jahre kräftig an mir, denn die Heimatforschung musste endlich nur aufgeschrieben werden fürs Museum, das darauf wartete. Das zog sich hin, wegen viel Theater. Heraus kam, was heute geehrt wird - und also Sinn hatte auch für andere. Die Geschichte des ersten und letzten eigenständigen Neubrandenburger Theaterversuchs, der implodierte, ehe der Rest 2001 fusionstüchtig war, gehört dazu und ist darin aufgehoben. Und so ehrten sie sie, indem sie sich nützten, und hatten sie also verstanden, sie kennen das. Über den Inhalt der 2 Hefte kann ich nicht viel mehr sagen als das Papier hergibt; wer es mag, mag es lesen.

Heute bin ich oft die Hälfte meiner Zeit in Neustrelitz und laufe noch immer wie ein Fremder durch die Stadt, weil ich den Blick behalten möchte der Distanz und Frische, unverstellt, weil sonst nichts zu erkennen ist. Den Knast kenne ich inzwischen in- und auswendig, der letzte macht das Licht aus, wegen Hans Fallada, „Der Trinker“. 2 Jahre hat der mich gekostet. Aber nicht abgesessen, sondern aufgespielt. Das ist im Alten Strelitz, dort wo einmal das erste Schloss stand, bei Regen läuft es immer noch in den zugeschütteten Schlossgraben hin zur Mauer, davor der Zaun mit Stacheldraht  nach Standard NATO 2. Aber die kaum entfernte Residenzstadt  - was ist das? Das interessiert mich noch als Phänomen, ist mir fremd wie balinesischer Hahnenkampf oder Indianerriten. Vielleicht zieht mich die zweite Staatsoperette der Luise von Mecklenburg-Strelitz, die ich abzuleisten habe bis nächsten Sommer, etwas näher an die Brust…Dass über dieser Landschaft Bomben spazieren geflogen werden sollen, ist mir unerträglich.

Was ich von Annalise Wagner habe, mag etwa Ausdauer sein; was uns unterscheidet ist die Methode. Das Sammeln und Versammeln ist die eine Hälfte, das Ausbreiten des Materials  eine andere. „Dichte Beschreibung“ heißt meine Arbeitsweise. Es sei vermerkt, dass der Blick auf das Gewöhnliche an Orten, wo es in „ungewohnten Formen“ auftritt, Bedeutungen entdeckt, die variieren entsprechend den Lebensmustern, von denen sie bestimmt werden, denn: „Das Verstehen der Kultur eines Volkes führt dazu, seine Normalität zu enthüllen, ohne dass seine Besonderheit dabei zu kurz käme“, so der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz zu seiner Methode der „Dichten Beschreibung“, das sind Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, denen ich viel Handwerk verdanke. So viel zur Forschung.

Schließlich Heimat, ein großes Wort, viel missbraucht in Blut und Boden; es darf nicht verrotten zum Kampfbegriff der Krieger. „In der Fremde muss man genau, einfach und ohne Hoffnung reden, vielleicht versteht es doch einer, so Uwe Johnson; Heimat könne man sich im Jahrhundert der Migrationen auch erwerben durch Zuwendung, Kenntnisse. Und endlich: „Heimat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen.“ (Max Frisch)

In diesem Sinne danke ich ihnen für die Aufmerksamkeit und den Preis.