
Elisabeth Hofmann:
Viele
Wege führen zu Ernst Barlach : Kunst kommunizieren
Viele Wege führen zu Ernst Barlach und eine nicht geringere
Anzahl von Fährten weist wiederum von Barlach aus in verschiedenste
Richtungen. In meiner Arbeit nähere ich mich dem Künstler über
seine Briefe und Annalise Wagners Schriften und folge von ihm aus den
Pfaden nach Strelitz bzw. Neustrelitz.
Wer aber und was hat mich auf die richtige Spur gebracht? Wo befanden
sich die entscheidenden Wegweiser?Als ich im September 2003 mein
Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich der Denkmalpflege in der Ernst
Barlach Stiftung Güstrow antrat, traf ich dort nicht nur den mir
bekannten Bildhauer, sondern auch den Graphiker, Zeichner und
Schriftsteller Ernst Barlach. Um mich mit letzterem vertraut zu
machen, riet mir Frau Tessenow, wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Stiftung: „Lesen Sie seine Briefe!“ Der Umfang von zwei dicken Bänden
sollte kein Hindernis sein. Schon die Lektüre des ersten Briefes überraschte:
Der Adressat war ein Strelitzer. Die unerwarteten Begegnungen setzte
sich fort: Barlachs Jugendliebe stammte aus Strelitz, er selbst
verweilte zu Besuch an diesem Ort, bevor dann später sein Bruder und
sein Sohn am Strelitzer Technikum studierten und er sich brieflich mit
einem Lehrer am Carolinums austauschte.
Bei einer Ausstellungseröffnung in der Kachelofenfabrik Neustrelitz
erzählte ich schließlich Frau Tschepego, Mitarbeiterin des
Karbe-Wagner-Archivs, von meinen „Entdeckungen“, worauf sie
entgegnete, dass im Archiv eine Totenmaske des Künstlers liege,
Annalise Wagner sich intensiv mit Barlach auseinandergesetzt und mit
dessen verwitweten Lebensgefährtin Marga Böhmer einen regen Kontakt
gepflegt habe. Auch in der Regionalbibliothek Neubrandenburg könne
ich fündig werden, dort sei der Großteil von Annalise Wagners
Barlach-Sammlung aufbewahrt. Bald darauf gewährte mir Herr Dr.
Probst, Geschäftsführer der Ernst Barlach Stiftung Güstrow, eine
vorweihnachtliche „Dienstreise“ in das Karbe-Wagner-Archiv, wo ich
mich durch den Inhalt einer Kiste mit der Aufschrift „Barlach“
arbeitete. Während der kalten Neujahrstage empfing mich dann Frau
Birkenkampf in der Regionalbibliothek Neubrandenburg – mit einem heißen
Cappuccino und den Manuskripten des bearbeiteten Briefwechsels von
Annalise Wagner und Marga Böhmer. Auch in den folgenden Monaten
erhielt ich von ihr immer wieder wertvolle Literaturtipps und zur
Weiterarbeit aufmunternde Grüße. Der Anfang des Sommers 2004
gesetzte Schlusspunkt war nur ein vermeintlicher – die Korrekturen
und Anregungen von Herrn Dr. Probst und Frau Thieme, wissenschaftliche
Mitarbeiterin der Ernst Barlach Stiftung, gaben Anlass zur
umfangreichen Überarbeitung. Auch mit dem Ende des Freiwilligen
Jahres im August 2004 lag nicht die endgültige Textfassung vor. Die
sorgfältige Lektorentätigkeit von Frau Tschepego, die die Redaktion
der Schriftenreihe des Karbe-Wagner-Archivs leitet, ließ mich die
Arbeit noch einmal mit anderen Augen lesen.
Annalise Wagner hat sich auf eine stark subjektive und zumeist
empirische Weise mit ihrer Umwelt auseinandergesetzt. Nicht in diesem
Maße, jedoch im Ansatz vertritt auch meine Arbeit eine solche
Sichtweise. Ihr radikales Rekurrieren auf die eigene Wahrnehmung und
den persönlichen Standpunkt mag Annalise Wagner letztendlich die
wissenschaftliche Anerkennung verwehrt haben, doch ist diese Form der
Äußerung in höchstem Maße aufrichtig und couragiert. Es stellt
sich die Frage, ob die sogenannte wissenschaftliche Objektivität in
ihrer behaupteten Absolutheit nicht ein Phantom der Wissenschaft
bezeichnet. Handelt es sich hier nicht vielmehr um subjektive
Erkenntnisse mit Allgemeingültigkeitsanspruch, um Übereinkommen und
Kompromisse? Das hierin verborgene Gefahrenpotential lässt sich
insbesondere an der deutschen Geschichte beobachten. Aktuelle Überlegungen
in der Kunstgeschichte scheinen da zukunftsweisend und ich schlage
vor, diese allgemein auf historische Betrachtungen beziehen: Wir
befinden uns dabei immer im „Spannungsfeld zwischen Zeitgebundenheit
und Zeitgenossenschaft“
– und, so ließe sich fortsetzen, im Spannungsfeld zwischen der
Gebundenheit an die subjektive Wahrnehmung und der reflexiven Fähigkeit,
diese selbst zum Objekt der Betrachtung zu machen oder zu versuchen,
die Perspektive anderer Subjekte einzunehmen.
Gerade diese Möglichkeit, die Welt vom Standpunkt eines anderen aus
– in meiner Arbeit sind dies die Blickwinkel von Ernst Barlach und
Annalise Wagner – betrachten zu können, halte ich in manchen Fällen
für erkenntnisreicher als den Versuch, eine Situation „objektiv“
zu betrachten. So ist es beispielsweise unmöglich, die Grausamkeit
des Nationalsozialismus anhand der nackten historischen Fakten zu
begreifen. Wenn jedoch in Barlachs Briefen die persönlichen Bedrängnisse
und Ängste anklingen, dann kann der Leser die Schrecken zumindest
erahnen.
Auch die polarisierenden Äußerungen von Annalise Wagner haben gegenüber
den objektiv glatten Schilderungen den Vorteil, dass sich hier
anregende Reibungspunkte bieten, die zudem eine eigene Stellungnahme
provozieren. So begreife ich Texte nicht als hermetisch oder
dogmatisch, sondern als Diskussionsangebot. Letztendlich, um noch
einmal ein Statement anlässlich des diesjährigen
Kunsthistorikertages zu zitieren, handeln wir, „wenn wir an der
Vergegenwärtigung der Werke und des Wissens über sie arbeiten, in
der Gegenwart und sind ihr mithin auch verantwortlich.“
Ein zweiter Aspekt erscheint mir insbesondere bei der Wahl der persönlichen
Perspektive eines Künstlers bedeutsam. Gewöhnlich beschränkt sich
unsere Begegnung mit einem Maler, Bildhauer oder Graphiker auf den
musealen Raum. Manchmal versuchen wir auch, uns ein Bild von seinem
lokalen Umfeld zu machen und in einigen Fällen ist es sogar möglich,
Einblick in sein Atelier zu erhalten. Jedoch besitzt bei verstorbenen
Künstlern auch dieser ehemalige Arbeitsraum eher musealen Charakter.
Indem somit der Künstler nur in Form seiner Werke präsent ist, ohne
jeglichen Eindruck des Privaten oder Alltäglichen, rückt das
verbindende Allzumenschliche seiner Persönlichkeit in weite Ferne.
Die Lektüre
von Barlachs Briefen ermöglicht eine andere Erfahrung. Hier lassen
sich Probleme, die zum Beispiel bei der
Erziehung von Kindern auftreten, oder Erlebnisse wie die erste
Liebe wiederfinden, die heute noch eine ähnliche Relevanz besitzen.
Durch solche Beobachtungen kann schließlich auch ein an der bildenden
Kunst weniger interessiertes Publikum Zugang zu dieser finden, um dann
eventuell im nächsten Schritt die „biographischen Stützen“
abzulegen und sich ganz auf die alleinige Existenz der Kunstwerke
einzulassen. Die persönliche Hinführung baut mögliche Hemmschwellen
ab, macht neugierig – so hoffentlich auch mein vorliegender Text zu
Barlach, denn ich halte Kunst im umfassendsten Sinne als für den
Menschen unverzichtbar:
Hans Manz: Ärgerlich
Schon immer wollten welche
der Erde entfliehen:
Erfinder,
Konstrukteure,
Piloten,
Astronauten –
weit über die Wolken hinaus,
auf den Mond,
tief in den Weltraum hinein.
Und schon immer
Waren andere früher dort gewesen:
Phantasten,
Träumer,
Geschichtenerzähler
Geschichtenleser.
Diesen schlichten Versen von Hans Manz ließe sich gegenüberstellen:
Zuversichtlich
Schon immer wollten welche
die Welt verstehen und verbessern:
Naturwissenschaftler,
Techniker,
Politiker,
Juristen –
weit über die Gesetze hinaus,
für das allgemeine Wohlergehen,
tief in die Gesellschaft hinein.
Und schon immer
haben andere früher das Wesentliche erahnt,
die Gegenwart in Frage gestellt
und andere Welten erprobt:
Künstler,
Schreibende,
Zuhörer,
Betrachter.
Zu Recht stehen diese Zeilen unter dem Verdacht des Idealismus,
ungerechtfertigt jedoch wäre der Vorwurf „antiquiert“ – Im
Schiller-Jahr ist das Nachdenken „Über die ästhetische Erziehung
des Menschen“ von besonderer Aktualität, wie zahlreiche
Veranstaltungen und Publikationen belegen. Eine differenzierte
Reflexion „Über Schönheit“ provozierte bis zum 16. Mai die
gleichnamige Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, wo
zudem eine internationalen Konferenz „The re-turn of beauty“
diskutierte und u.a. nach den gerechtigkeitsstiftenden Potentialen von
Schönheit fragte. Zwei Wochen darauf disputierten auf einem Symposium
in der Akademie der Künste Berlin Künstler und Wissenschaftler
unterschiedlichster Disziplinen über die „Freiheit Kunst. autonom,
authentisch, autistisch – Thesen und Kunstobjekte“.
Wenn wir also wieder den Gedanken von der lebensgestaltenden
Wirkungskraft der Kunst äußern können, wenn es uns möglich ist,
große Begriffe wie „das Schöne“ und „Freiheit“ zu denken und
auszusprechen, dann gelingt es vielleicht auch mithilfe von Büchern,
Bildwerken, Skulpturen und musikalischen Kompositionen uns über
„das Wahre“ und „das Gute“ zu befragen. In diesem Sinne: Wir
bleiben im Gespräch ...
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