Annalise-Wagner-Preisträgerin 2008

Jury des Annalise - Wagner - Preises 2008

Frau Armgard Bentzin, Kuratorium Annalise-Wagner-Stiftung

Frau Sabine Schmidt, Kuratorium Annalise-Wagner-Stiftung

Frau Susanne Schulz, Deutscher Journalisten-Verband, Landesverband MV e. V.

Herr Dirk Kollhoff, Kuratorium Annalise-Wagner-Stiftung

Herr Matthias Wolf, Annalise-Wagner-Preisträger 2003

Herr Dr. Rolf Voß, Deutscher Museumsbund e. V.

schlägt einstimmig vor,
mit dem Annalise-Wagner-Preis 2008 auszuzeichnen:

Annette Leo:
„Das ist so’n zweischneidiges Schwert hier unser KZ...“. Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück
Metropol-Verlag Berlin, 2007
ISBN 978-3-938690-61-1

Die Historikerin und Publizistin Annette Leo leitete 1999/2000 das Interview-Projekt „Die Stadt Fürstenberg und das Konzentrationslager Ravensbrück“. In Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück wurden Fürstenberger Bürger über ihre Jugend und ihren Alltag im Nationalsozialismus befragt, ohne dass „mit dem Finger auf sie gezeigt“ und sie wegen ihres „Nicht-Sehen- und Nicht-Hören-Wollens“ stigmatisiert wurden.

Die Autorin hat mit großer Sensibilität erkundet, wie die Fürstenberger der Geburtsjahrgänge 1913 bis 1933 erlebt und verarbeitet haben, was zwischen 1939 und 1945 im KZ Ravensbrück geschah, was danach unter sowjetischer Besetzung passierte - und wie sie heute darüber denken.

Die von Annette Leo aufgeschriebenen „kleinen und großen Geschichten“ aus Fürstenberg sind jedoch verallgemeinerbar, sie hätten auch an vielen anderen Orten in Deutschland so passieren können.

Die räumliche Nähe zwischen dem „normalen“ einstigen Luftkurort in Mecklenburg-Strelitz und dem „historisch belasteten“ KZ, das mit der Besetzung durch die sowjetische Armee eine historische „Überschreibung“ erfuhr, erzeugte hier einen stärkeren Druck
auf die individuellen Wahrnehmung von Verantwortung.
Diese nahmen die Fürstenberger sehr unterschiedlich an. Die Brüche und Widersprüche in der Geschichte und damit auch in den Erinnerungsprozessen liegen in der Doppelörtlichkeit Fürstenberg / Ravensbrück viel offener da. Sie rufen förmlich nach einem neuen Ansatz des Gedenkens in einer veränderten Geschichtskultur, der weniger
in vereinfachenden Schwarz-Weiß-Schablonen als in andauernden Widersprüchlichkeiten argumentiert. Dies beispielhaft realisieren zu können, ist angesichts des ebenso aktuellen wie schwierigen Themas die besondere Leistung der Publikation von Annette Leo.

Ein Spaziergang vom Bahnhof Fürstenberg zur Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück führt die Autorin an einem schönen Spätsommertag vorbei an den in 35 Zeitzeugen-Interviews wachgerufenen steinernen Zeugen der Geschichte. Es ist ein "Gang durch das vielstimmige Schweigen, das nach und nach beredt wird".

Im Kapitel „Gedenken in Reih und Glied“ beschreibt sie die staatsoffizielle symbolische Funktion der KZ-Gedenkstätte in der DDR als eine, die nicht nur die Positionen und die Politik der SED, sondern vor allem die Existenz des Staates DDR legitimierte.

Annette Leo setzt den ritualisierten Formeln der „Bewältigung“ von Geschichte die Annahme oder Ablehnung von persönlicher Verantwortung der Interviewten, immer eingebettet in deren Alltagserfahrungen, entgegen.

Die von den oft mühevoll zur Kooperation bewegten Gesprächspartnern teils barsch abgewehrten Fragen zur „Nähe und Ferne zu einem versperrten Ort“ holen das KZ allmählich aus einer "inselhaften Isolation" und betten es in die Lebensgeschichten der Fürstenberger ein.

Zu den interviewten Fürstenbergern gehörten z. B. die Tochter eines am Aufbau des KZ beteiligten Bauunternehmers, der 1945 Häftlinge vor dem Todesmarsch versteckte, die Witwe eines KZ-Wachmanns, eine Fleischersfrau, deren Familie an der Belieferung des KZ verdiente, ein Zimmermannslehrling, der Häftlingen half und deshalb selbst zur KZ-Haft verurteilt wurde oder die Witwe eines als Deserteur erschossenen Wehrmachtsoffiziers, die während ihrer Haft von den grausamen Experimenten an Häftlingen erfuhr.

Anhand der vielfältigen Beziehungen der Handwerker,
Händler, Nachbarn und Angehörigen zu jenem "Un-Ort", der eine „doppelte“ Geschichte aufweist, werden die Leser zu einer erweiterten, vielfach unbequemen Wahrnehmung der Sicht auf das KZ bewegt. Sie müssen bei der Lektüre versuchen, das Geschehene komplexer einzuordnen, ohne NS- und kommunistische Diktatur gleichzusetzen oder die NS-Verbrechen zu relativieren.

Das Konstruieren von Geschichte wird durch die sensibel gestellten Fragen der Autorin als aktiverer Bestandteil einer politisch-demokratischer Kultur erlebbar, es bleibt „offen“ und wird keinen Endgültigkeitsanspruch geltend machen können. Das einmal erlangte Wissen um die Motive der Handelnden provoziert eher weitere Fragen statt plausible Antworten vorzugaukeln. Somit wird die Vergleichbarkeit mit heutigen Entscheidungssituationen überhaupt erst möglich.

Als „Schnitt durch den Boden“ der Erinnerungslandschaft beschreibt die Autorin ihre Methode eines lebensgeschichtlichen Ansatzes, bei dem die „tektonischen Beben“ der gesellschaftlichen Brüche 1945 und 1989/90 helfen, verschüttete Erinnerungen freizulegen. So löste etwa der „Supermarkt-Skandal“ 1990 in Fürstenberg vielleicht gerade zu dem Zeitpunkt einen heilsamen Druck auf die erinnernde Auseinandersetzung mit der Doppelgeschichte von Stadt und KZ aus, als bisherige Deutungsmuster zerfielen und neue konstruiert werden mussten. Dies stellt die Autorin in beeindruckender Dichte dar.

Die Arbeit von Annette Leo weist durch die stilistisch virtuos gehandhabte Interview- und Kommentartechnik (Charakterisierung der Personen über deren ungeglättete Spachidiome, Aufzeigen von Unausgesprochenem oder schamhaft Umschriebenen als schwer berührbare Leerstellen der Erinnerung) eine beispielhafte Klarheit der Les- und Verstehbarkeit auf, sie steht für einen nichtideologischen und „leisen“ Umgang mit individueller Verantwortung anstelle plakativ wirksamer Schuldzuweisung.

Das Buch arbeitet mit innovativen künstlerischen und publizistischen Mitteln an einer aktiven Haltung des Erinnerns. Es verhindert durch die Darstellung komplexer gesellschaftlicher Widersprüche (Entnazifierung, Enteignung) erneute Legendenbildung, es besticht durch die dichte Erzählung und Verknüpfung der Erfahrungen der interviewten Fürstenberger mit den Opfergeschichten der KZ-Häftlinge.


Matthias Wolf, Mai 2008

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