Annalise-Wagner-Preisträger 2003

Ralf - Peter Schulze,
Intendant der Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/ Neustrelitz: 


Laudatio auf den Annalise - Wagner - Preisträger  2003

Sehr geehrte Damen und Herren,

Theaterleute glauben an Gestalten: die beiden Bände "Theater in Neubrandenburg", die Matthias Wolf in der Schriftenreihe des Regionalmuseums vorgelegt hat und die mit dem Annalise Wagner Preis 2003 ausgezeichnet worden sind,   fügen sich thematisch den regionalgeschichtlich bedeutsamen Arbeiten Annalise Wagners an, sie sind aber auch rein äußerlich den Veröffentlichungen verwandt, die Annalise Wagner mit den 1969 erschienenen Bänden ihrer "Beiträge zur Theatergeschichte von Neustrelitz" 1969 vorgelegt hat. Nebeneinander ins Bücherregal gestellt, unterscheiden sie sich nur durch das Papier und die jeweils zeittypische Form der grafischen Präsentation.

Zeittypisch sind die Unterschiede aber auch in anderer Weise.

Der Dramaturg Matthias Wolf, der seine wissenschaftlichen Studien an der Humboldt-Universität in Berlin absolvierte, fasst den Gegenstand seiner Arbeit begrifflich schärfer auch da, wo er ihn im Sinne einer gewandelten Theatergeschichtsschreibung methodisch erweitert und seinen Blick immer wieder auf die Wechselwirkung von Theater und Leben, Theater und Zeitumständen wirft. Seine erste berufliche Heimat fand Matthias Wolf in Neubrandenburg. Er kommt aus dem Kammertheater, das sich die Erprobung neuer und die Erweiterung der überkommenen Theaterformen beispielhaft auf die Fahnen geschrieben hatte. Wer dabei gewesen ist, wird sich sicher noch an die Neueröffnung des Schauspielhauses erinnern, ein symbolträchtiges Ausrufungszeichen in der jüngeren Geschichte der Stadt. Das Kammertheater hat die Inbesitznahme des Schauspielhauses damals mit einem Umzug theatralisiert, hat also die provokative Form des Straßentheaters aufgegriffen, um einem alltäglichen Vorgang verstärkte Aufmerksamkeit zu sichern und eine vergrößerte Wahrnehmung  dieses Aktes zu erreichen. Und es hat damit auch den Vorgang selbst vergrößert.

Lassen Sie uns einen Moment an diesem Punkt verweilen. Das Schauspielhaus in Neubrandenburg, das älteste noch bespielte Theater in Mecklenburg, war uns, den Bürgern, und uns, den Theaterschaffenden, eigentlich schon verloren gegangen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren die Musen verjagt, die Künste ausgezogen, und die Profanisierung des Gebäudes mit den notwendigen Umbauten zu den jeweils neuen Zwecken als medizinische Badeanstalt, als Lazarett oder als Werkstatt trug schon den Keim zu seinem Verfall in sich. Der vollständige Zusammenbruch des altehrwürdigen Gebäudes konnte jedoch durch eine Totalsanierung vermieden werden, deren Kosten aber nur aus öffentlichen und aus Nachwende-aufbaufördertöpfen mit entsprechender Nachfolgenutzung aufzubringen waren. So hat Neubrandenburg mit einem alten, geschichtsträchtigen Gebäude auch sein Theater wiederbekommen. Hat nicht, so frage ich mich angesichts dieses in der Arbeit von Matthias Wolf in Wort und Bild überlieferten Vorgangs, im Gebälk dieses alten Hauses auch der Geist, also eine sinnstiftende  Idee des Theaters überlebt, an die man sich in Zeiten knapper Kassen und andauernder Diskussionen um die Finanzierung unserer Kultur erinnern sollte?

Mit dem Umbau der Marienkirche zur Konzertkirche, lange geplant und im Jahrzehnt nach der sogenannten Wende glücklich zu Ende gebracht, - auch mit dem Wiederaufbau dieses Landestheaters vor nun bald 50 Jahren - hat man in schwierigen Zeiten die Zeichen gesetzt, die den Lebenswillen des Gemeinwesens, ja der ganzen Gesellschaft verkörpern konnten. Man braucht sich dieses Landestheater und die Konzertkirche und das Schauspielhaus in Neubrandenburg nur einmal wegzudenken, weg aus den Stadtplänen und der Zeitung, weg aus den Köpfen und Herzen, weg aus der Erinnerung und dem Wissen der Menschen, die hier leben, um nicht allein der kulturellen, sondern auch der sozialen Armut inne zu werden, die dann entstünde.

Folgt man dem Arbeitsansatz, den Matthias Wolf in seiner mit dem Annalise-Wagner-Preis 2003 ausgezeichneten Arbeit "Theater in Neubrandenburg" vorlegt, dann erweist sich am regionalen Beispiel der immer wieder bestrittene, immer wieder eingeforderte Zusammenhang von Theater und Leben als längst existent, denn eine Symbiose von Theater- und Allgemeingeschichte ergibt sich sozusagen von selbst. Die Geschichte der Stadt und der Region wäre ohne Theater nicht notwendig anders, aber sicherlich ärmer verlaufen. Das Theater verkörpert ein Stück Identität dieser Region.

Heute wird mit Theatern und Orchestern als sogenannten weichen Standortfaktoren geworben. Das legt uns natürlich auch Verpflichtungen auf. Wir spielen mit unseren Beschäftigten Theater sogar zu Zeiten, die im historisch gewachsenen Tarifrecht der Bühnen und Orchester klassische Urlaubszeiten sind. Die persönlichen Opfer und die organisatorischen Anstrengungen, die dazu nötig sind, kann sich kein Außenstehender vorstellen.

Wer sich also in diesen Tagen in der Kulturszene des Landes umsieht, hat tatsächlich und buchstäblich die Qual der Wahl, sich zwischen Zinnowitz und Schwerin, zwischen Warnemünde und Neustrelitz, zwischen Waren und Putbus zu entscheiden. Dabei sind mit diesen Orten nur die Theaterangebote erwähnt, die Musikfestspiele mit der Vielzahl ihrer über das Land verstreuten Veranstaltungsorte kommen noch hinzu.

Mecklenburg-Vorpommern schickt sich an, mit der Vielfalt seiner sommerlichen Angebote ein Paradies für Kultururlauber zu werden. Offensichtlich reift hier das Bewusstsein, dass Subventionen im Kulturbereich auch Wirtschaftsinvestitionen sind - ein Bewusstsein, ohne das Kunst und Kultur heute schwerlich überleben werden. Für das Theater, dessen Geschichte im Lauf der Zeiten, wie die von Matthias Wolf vorgelegte Theatergeschichte Neubrandenburgs gezeigt hat, immer auch eine Geschichte des Wandels der Verhältnisse gewesen ist, bedeutet dies einen ungeheuren Veränderungsdruck. Wohin der letztlich führt, ist nicht abzusehen. Pessimistische Stimmen auch aus Kreisen meiner Berufskollegen, sagen unseren Stadt-, Staats- und Landestheatern den Tod in acht bis 12 Jahren voraus.

Ich glaube an die Zukunft des Theaters. Theater kann nicht durch eine Gesellschaft zur Disposition gestellt werden, doch die uns so lieb gewordenen Häuser u. Strukturen allemal. Diese werden durch das Fehlen der Mittel aus öffentlicher Hand dem Markt überantwortet. Das bedeutet Lebensgefahr. Weil Sinngefahr. Werden Theaterräume in Zukunft Orte, die sich das Theater in einer bestimmten Zeit sucht, die nicht von der Gesellschaft zugewiesen wurden? U-Bahnhöfe, Gefängnisse, Schwimmbäder? Geht, bzw. wandert das Theater tatsächlich in ausrangierte Ruinen? Spielt auf dem Müllhalden einer sich verabschiedenden bürgerlichen Gesellschaft? Nicht nur das Theater, unsere ganze Gesellschaft durchlebt ein Zeitalter zunehmender Beschleunigung. Und auf den Bühnen unseres Landes schwanken die Bretter, die Welt bedeuten gewaltig im Fahrwasser Gesellschaftlicher Umgestaltungen.

"Was heißt, und zu welchem Ende studiert man Geschichte", hat Friedrich Schiller, dessen Schauspiel "Die Räuber" wir gleich nach den Theaterferien auf der Bühne dieses Hauses in neuer Inszenierung vorstellen wollen, gefragt, als er seine Professur in Jena bezog. Für die Regionalgeschichte hat Annalise Wagner eine Antwort durch die Tat gegeben. Sie hat gesammelt und aufbewahrt, erforscht und in Veröffentlichungen dargestellt, was zu so etwas wie einem "öffentlichen Gedächtnis" beitragen kann, dem wir auch das Theater anvertraut sehen möchten. Sie wäre nun 100 Jahre alt, und es gibt noch Menschen unter uns, die sie kannten und die mit ihr zusammengearbeitet haben. Ich kannte sie nicht, aber im Blick auf ihr Schaffen stelle ich sie mir als eine couragierte und auch listige Frau vor, die ihre Arbeitsfelder gegen alle Widerstände bewahrt und durchgesetzt hat. Neustrelitz war durch seine Geschichte als großherzogliche Residenzstadt vermutlich ein  mit vielen Tabus belegter schwieriger Sammlungs- und Forschungsgegenstand. In ihren Arbeiten haben Annalise Wagner für Neustrelitz wie auch Matthias Wolf für Neubrandenburg gezeigt, wie sehr die Theatergeschichte dem Auf und Ab nicht nur der Zeiten, sondern auch der Hofschatulle ausgesetzt war, und auch, wie dahinter immer ein herrscherlicher Wille wirksam war. Wo ist der heute?

1918 hatte der neue Souverän, das Volk, offenbar keine Probleme, mit anderen Institutionen des Staates auch das in Deutschland gewachsene Theatersystem in bürgerlich- republikanische Obhut zu nehmen. Teilhabe am Staat bedeutete damals auch Teilhabe an Bildung und Kunst. Darin sah man und sieht man mit Recht eine konstitutive Komponente des demokratischen Staatswesen, wie jüngst das Erschrecken über die PISA Studie gezeigt hat. Erschrecken aber genügt nicht. Wir müssen fähig sein, die Bildungs- und Kultureinrichtungen unseres Landes bewahrend zu entwickeln oder entwickelnd zu bewahren – ganz wie man es betonen will. Wenn wir nicht aufpassen, droht uns ein Verlust, dessen Ausmaß wir noch gar nicht erfassen können.

Und wenn wir nicht Willens sind, unsere Gegenwart immer wieder als Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft zu begreifen, wenn wir uns nicht als Glied einer Kette verstehen, die jenes Geschehen bewirkt, das wieder Geschichte wird, dann werden wir keine Zukunft haben. Das ist es, was uns am meisten erschreckt und eben deshalb verunsichert in den gegenwärtigen Diskussionen:  Man gewinnt den Eindruck, dass niemand mehr weiß, mit welcher Kraft und mit welchen Opfern von Generationen errungen wurde, was heute im kulturellen, im politischen und wirtschaftlichen Bereich vorschnell zur Disposition gestellt wird.

Gerade heute, wo uns neue Medien neue, virtuelle Welten vorspiegeln, aber die Wahrheit einer kulturellen Vielfalt dieser Welt unter deutlich erkennbaren kommerziellen Interessen zur Fiktion von einem globalen Dorf umgebogen wird, gerade heute ist uns Geschichte als solch ein öffentliches Gedächtnis notwendiger denn je.

Und das ist eins der wesentlichen Arbeitsfelder im Verständnis des hier in der Theater und Orchester GmbH arbeitenden Dramaturgen Matthias Wolf. Er siebt die regionale Geschichte auf theatralische Verwendbarkeit, ist Initiator des unlängst in der JVA Neustrelitz aufgeführten Projekts der Trinker. Auf Spurensuche unterwegs entdeckte er den Zusammenhang zischen dem Leben Falladas, der Entstehung seiner Erzählung „der Trinker“, und dessen Absturz in die damalige Trinkerheilanstalt. Für das nächste Jahr nahm Matthias Wolf  Witterung in den Spuren der Königin Luise auf und „forschte“ und „entdeckte“ Lebensstationen, die bisher unbekannt waren, stellte diese als Grundlage für die Schaffung der Operette „Luise, eine Königin tanzt“ zur Verfügung. So findet wir Matthias Wolf in seinem Neubrandenburger Büro in Bücherbergen versunken auf der Suche nach einer aufzunehmenden Fährte, auf der Suche nach vagabundierendem Erbe nach vagabundierend Ideen. Wichtig für jede in diesem Theater zu erarbeitende Produktion.

Die Gegenwart ist uns vertraut, aber die Zukunft, so fremd und angstbesetzt sie sein mag, ist uns anvertraut. Theater hat von jeher auch das Fremde aufgesucht. Ob ein Faust den Mephisto auf die Szene bannt, ob Mutter Courage durch den 30jährigen Krieg zieht, ob wir uns mit Fontane und Effi Briest dem weiten Land der Seelen zuwenden, immer zielen unsere theatralischen Darstellungen darauf, das Fremde vertraut und das Vertraute fremd zu erleben. So gewinnen wir beides zugleich: Nähe und Abstand; und wir erreichen, in den glücklichen Momenten gelungenen Theaters, durch solche Nähe Heimat und durch diesen Abstand Erkenntnis. Ich  sehe Theater und die Kunst in der Verantwortung, mit ihren Mitteln und Möglichkeiten diesen Disput aufzugreifen. Kunst muss und kann aufzeigen, das der Mensch mehr ist, als die Summe seiner Einkommen.

Wer Geschichte aufschreibt, wer das Vergangene wahrzunehmen, einzuordnen und zu würdigen lernt, der versichert sich der Gegenwart und baut an der Zukunft. Die Neubrandenburger Theatergeschichte, die Matthias Wolf vorgelegt hat, wäre ohne Neustrelitz und den herzoglichen Hof nicht geschrieben worden. Was Geschichte war, ist Gegenwart geworden; Durch die Fusion des Neustrelitzer Landestheaters mit dem Kammertheater Neubrandenburg und der Neubrandenburger Philharmonie, so schmerzlich sie für alle Beteiligten und deren Parteigänger auch gewesen ist, wurde dem Theater- und Musikleben in beiden Städten und im gesamten Südosten Mecklenburg-Vorpommerns die einzig realistische Chance zum Überleben geboten. Denn Theater als Kunstraum bleibt bestehen, die Frage nach der inneren Einrichtung wurde oft gestellt und wird es immer wieder.

Über allen Finanzierungsgesprächen dürfen wir nicht die Hauptsache aus den Augen verlieren: Die Begegnung des Menschen mit sich, seinen Gefühlen, seinem ureigenstem Selbst. Seiner Vergangenheit, seinen Wurzeln, seinem Kindheit. Und so suchen wir in der Geschichte Geschichten zum erzählen und befragen und untersuchen Stücke unserer jüngeren und älteren Vergangenheit nach ihrem Sinn für heutiges Leben. Unterhalten unser Publikum, suchen Vergnügen am Spiel mit dem Unmöglichen und dem Möglichem. Suchen ihr Herz zu berühren, ihren und unseren Kopf zu strapazieren. Dies dürfen wir für Sie und für uns tun,  im Musiktheater, dem Schauspiel und der Philharmonie dieses Theaters.

Und dies tun wir mit Matthias Wolf, der in diesem Hause eine künstlerische Heimat gefunden hat, mit dem es eine Freude ist, zusammenzuarbeiten, und der so hoffe ich, noch lange für Sie und uns auf Spurensuche sein wird.

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